Im Jahr 1657 erschien in Wien ein Werk, dass man wohl zu den eindrucksvollsten Dichtungen des 17. Jahrhunderts rechnen kann: Der Cherubinische Wandersmann. Alle Liebhaber spiritueller Sinnsprüche und theologischer Geheimlehren, dürften in den darin enthaltenen Versen wirklich Erfreuliches finden. Eine Perle der neuzeitlichen Erbauungsliteratur.
Der Verfasser war in der Tat ein christlicher Weiser, dem es gelang seine Gedanken in eine so edle Form zu bringen, dass sie den Leser nicht nur belehrt, sondern ihn wahrscheinlich sogar erheiternd berührt.
Wie selig ist der Mensch, der alle seine Zeit
Mit anders nichts verbringt als mit der Ewigkeit.
Der jung und alt allein betrachtet und beschaut
Der Weisheit Schloss, das Gott, sein Vater, hat gebaut.
Der sich auf seinen Stab, das ewige Wort, aufstützt,
Und nicht wie mancher Thor in fremdem Sande setzt.
Der nicht nach Haus und Hof, nach Gold und Silber sieht,
Noch feines Lebens Zeit zu zählen sich bemüht.
Ihn wird das blinde Glück nicht hin und her traktieren,
Noch etwa eitler Durst zu fremdem Wasser führen.
Er weiß von keinem Zank, er liebt nicht Krämerei,
Er trachtet nicht danach, dass er gesehen sei.
Gegen das Dogma protestantischer Scholastik
Hinter »Angelus Silesius«, der latinisierten Fassung für den »Schlesischen Boten«, steht der Sohn eines polnischen Adligen protestantischen Glaubens: Johannes Scheffler (1624-1677). Während des Dreißigjährigen Krieges kam er im schlesischen Breslau zur Welt, wo er in einer Zeit großer Unsicherheit aufwuchs. Seine Eltern verstarben bereits, als Silesius noch ein Jugendlicher war. Damals zogen plündernde und mordende Heere durch Europa. Einen Großteil der Überlebenden in Schlesien, tötete schließlich die Pest. Es war auch eine Zeit, wo sich Aberglaube, Magie und Hexerei verbreiteten.
Im 17. Jahrhundert schienen recht wirklichkeitsfremde Tendenzen in der lutherischen Orthodoxie, den christlichen Glauben im Protestantismus immer mehr erstarren zu lassen. So wurde Vernunft zum echten Dogma im Protestantismus. Das aber veranlasste Silesius im Jahr 1653 zum Katholizismus zu konvertieren. Acht Jahre später ließ sich Silesius sogar zum katholischen Priester weihen. Von da an war er ein erbitterter Gegner der Anhänger Luthers. Für ihn waren sie Vasallen Luzifers und, so wörtlich, »Anbeter einer Sau«. Wegen ihrer angeblichen Vergehen gegen Gott, empfand er die Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die Osmanen, als Gottes sträfliche Antwort auf ihre Abwendung vom rechten Glauben.
Der Cherubinische Wandersmann
Trotz dass, wie etwa bei Meister Eckhart, die Katholische Kirche große Vorbehalte gegenüber Mystikerinnen und Mystikern hatte, stand sie in dieser Zeit, der Mystik aufgeschlossener gegenüber als die reformierte Kirche der Lutheraner. Es scheint damit, als hätten die Sinnsprüche des Angelus Silesius nicht nur Duldung erfahren, sondern auch Gefallen.
Der Cherubinische Wandersmann aber war nicht etwa systematisch geordnet, wie andere christliche Schriften seiner Zeit. Es scheint als hätte ihr Verfasser das auch so beabsichtigt. Denn manche Aussagen darin finden sich teils hier und dort, wiederholen sich auch in geringer Variation. Silesius wusste, dass sie auf diese Weise besser wirkten. Manchmal auch gibt der Autor in einem Absatz die Lösung zu einem aufgegebenen Rätsel.
Das ewige Ja und Nein.
Gott spricht nur immer Ja, der Teufel saget Nein;
Darum kann er auch mit Gott nicht Ja und Eines sein.
– Cherubinischer Wandersmann 2:4
Natürlich muss man den theologischen Hintergrund kennen, um das in diesen Zeilen verborgene Rätsel zu lösen, was nicht ganz einfach sein dürfte. Doch das »Ja« das hier zweimal auftaucht, damit wohl spielte Silesius auf einen der hebräischen Namen für Gott an: Jah.
Ein Seufzer sagt Alles.
Wenn meine Seele seufzt und Ach und Oh schreit hin,
So rufet sie in sich ihr End und Anbeginn.
– Cherubinischer Wandersmann 2:64
Es ist gewiss nicht gewöhnlich, das Silesius seinen Texten eine, sagen wir, »heilige Scherzhaftigkeit« verlieh. Denn mit dem »Ach und Oh« das er hier schreibt, meint er natürlich jenes biblische Alpha und Omega. In diesem Sinne aber sind diese wenigen Zeilen so aussagekräftig, dass es sich sicherlich lohnt noch etwas darüber nachzusinnen.
A B ist schon genug.
Die Heiden plappern viel; wer geistlich weiß zu beten,
Der kann mit A und B getrost für Gott hintreten.
– Cherubinischer Wandersmann 2:77
Mit A und B ist hier der hebräische »Abba« gemeint – der Vater.
Ist die Lösung schon in Klammern eingefügt:
Iss Butter, iss mein Kind, und Honig (Gott) dabei,
Damit du lernst, wie Bös‘ und Gut zu scheiden sei.
– Cherubinischer Wandersmann 2:205
Wie auch bei anderen bekannten Mystikern, waren auch die Verse des Angelus Silesius keine Erzeugnisse aus reinen Vermutungen oder angesammeltem Wissen. Wie vor ihm bei Jakob Böhme, flackerte auch in Silesius immer wieder ein flammender Funke göttlicher Inspiration.
Das ich etliche Schriften Jakob Böhme gelesen, […] ist wahr und ich danke Gott dafür, denn sie sind große Ursache gewesen, dass ich zur Erkenntnis der Wahrheit kam.
In seinem Cherubinischen Wandersmann orientierte er sich gewiss an seinem Vorbild Jacob Böhme. Ihn verehrte er er als wirklichen Meister. Er scheint als tauche Silesius immer wieder in die Gedankenwelt Böhmes ein.
Erst später wandte er sich von Böhme immer mehr ab und kam zurück zu den christlichen Mystikern des Mittelalters, darunter etwa der dominikanische Mystiker Johannes Tauler.
Titelkupfer einer Ausgabe des Cherubinischen Wandersmanns, Buchdruckerei Ignatij Schubarthi (1675).
Geflügelte Diener Gottes
Was den eigenartigen Titel »Cherubinischer Wandersmann« anbelangt, so weist Silesius gewissermaßen hin auf seine Vorgänger der Mystik, speziell auf Meister Eckhart, doch auch auf den Mystiker Dionysius Areopagita († 1. Jhd. n. Chr.), den der Apostel Paulus einst in Athen zum Christentum bekehrt hatte.
In der ihm zugeschriebenen »Himmlischen Hierarchie« (De caelesti hierarchia) beschreibt Dionysius die Seraphim (von Gott erschaffene, ihm untergeordnete Engel) als Sinnbilder für das, was einem widerfährt, dessen Herz sich in göttlicher Liebe entzündet. Die Cherubim aber stehen für das Aufschwingen der Seele in die Sphären göttlicher Beschaulichkeit. Letzteres war das »spirituelle Feld«, woraus auch Silesius die Verse seines Cherubinischen Wandermanns empfing. In seinem Vorwort dazu schreibt er:
Glückselig magst du dich schätzen, wenn du dich beide lässest einnehmen, und noch bei Leibes Leben bald wie ein Seraphim von himmlischer Liebe brennest, bald wie ein Cherubim mit unverwandten Augen Gott anschauest; denn damit wirst du dein ewiges Leben in dieser Sterblichkeit, so viel es sein kann, anfangen und deinen Beruf oder Auserwählung zu derselben gewiss machen.
– Cherubinischer Wandersmann, aus dem Vorwort
Wer hier auf Niemand sieht, als nur auf Gott allein,
Wird dort ein Cherubim bei seinem Throne sein.
– Cherubinischer Wandersmann 2:184
Wo aber ist hier die thematische Verbindung zur Mystik?
Anscheinend vermochte Silesius ein »höheres Licht« zu schauen, worin er aus der Geisteswelt vermittelte Erkenntnisse gewann. Doch war das nicht etwa nur eine dem Ego zuträgliche Schmeichelei oder seine »Freiheit der Wahl«, sondern eine höhere Freiheit, die ihm ein geistiges Wirken vermittelte. Das heißt, jene Erkenntnis, die in die Tiefen der Weisheit führen soll, wird auf dem Wege geistiger Anschauung gewonnen, und nicht etwa in diskursivem, bewusst kontrolliertem Denken.
Von jenem Schauen erfahren wir etwa auch bei der Hildegard von Bingen, die vom »Lebendigen Licht« schrieb, durch das Gott in ihren Visionen zu ihr sprach. Der Mystiker schaut in jene Gefilde also nicht mit seinem physischen Auge, sondern einer Art spirituellem, innerem Auge, das Dionysius Areopagita auch in seinem Werk über die Himmlischen Gefilde beschreibt. Ebenso Silesius. Der schrieb:
Zwei Augen hat die Seele: eins schauet in die Zeit,
Das andere richtet sich hin in die Ewigkeit.
– Cherubinischer Wandersmann 3:228
Das überlichte Licht schaut man in diesem Leben
Nicht besser, als wenn man in’s Dunkle sich begeben.
– Cherubinischer Wandersmann 4:23
Wer an den Füßen lahm und am Gesicht ist blind,
Der tue sich dann um, ob er Gott nirgends find’t.
– Cherubinischer Wandersmann 1:57
Der nächste Weg zu Gott ist durch der Liebe Tür,
Der Weg der Wissenschaft bringt dich gar langsam für.
– Cherubinischer Wandersmann 5:320
Sicher aber geht dann durch dieses Tor der Liebe nur, der sich von den irdischen Dingen und Begierden zurückzieht, der auch sein eigenes egoistisches, verblendetes und durch die Schwerkraft angezogenes, körperliches Selbst, bereits aufgegeben hat.
Wo Gott ein Feuer ist, so ist mein Herz der Herd,
Auf welchem er das Holz der Eitelkeit verzehrt.
– Cherubinischer Wandersmann 1:66
Mensch, in das Paradies kommt man nicht unbewehrt;
Willst du hinein, du musst durch Feuer und durch Schwert.
– Cherubinischer Wandersmann 1:132
Du bist Babel (Babylon) selbst: gehst du nicht aus dir aus,
So bleibst du ewiglich des Teufels Polterhaus.
– Cherubinischer Wandersmann 1:226
Zwei Wörtlein lieb ich sehr: sie heißen Aus und Ein;
Aus Babel und aus mir, in Gott und Jesum ein.
– Cherubinischer Wandersmann 2:213
Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt,
die dich in dir mit dir so stark gefangen hält.
– Cherubinischer Wandersmann 2:85
Mein bester Freund, mein Leib, der ist mein ärgster Feind:
Er bindet und hält mich auf, wie gut er’s immer meint,
Ich hass und lieb ihn auch, und wenn es kommt zum Scheiden,
So reiß ich mich von ihm mit Freuden und mit Leiden.
– Cherubinischer Wandersmann 4:79
Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt,
Der ist nicht wert, dass er im Menschenstande lebt.
– Cherubinischer Wandersmann 2:22
Das größte Wunderding ist doch der Mensch allein:
Er kann, dich dem er’s macht, Gott oder Teufel sein.
– Cherubinischer Wandersmann 4:70
Die Überwindung des Leibes
Wer sich aus dem ewigen Triebverlangen entwinden möchte, um sein Sehnen nur zum Geistigen hin aufzurichten, erreicht das durch allmähliche Befreiung aus aller Leiblichkeit. Der Körper ist Instrument der Seele, die Seele aber Instrument einer noch höherer Instanz, die in ihr als heiliger Gottesfunken flackert. Wie eben alle Gelehrten und Weisen der höheren Geistigkeit und religiös-mystischen Spiritualität, so weißt auch Silesius darauf hin, dass das Leibliche ab einem gewissen Entwicklungsgrad überwunden werden sollte.
Wie soll sich die Seele aber dabei aus dem Leib erheben und aufschwingen, um zu Erkennen?
Und was ist damit gemeint, wenn es heißt, dass jemand, der nach obigem Bestreben trachtet, sich in Gott versenken und verlieren soll?
Diese Fragen beantwortet Silesius auf ganz ausgesprochene Weise:
Gott ist ein Wunderding: Er ist das, was er will,
Und will das, was er ist, ohne jedes Maß und Ziel.
– Cherubinischer Wandersmann 1:40
Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirst du bekennen,
Dass du je weniger ihn, was er ist, kannst nennen.
– Cherubinischer Wandersmann 5:41
Denkst Du den Namen Gottes zu sprechen in der Zeit?
Du sprichst ihn noch nicht aus in einer Ewigkeit.
– Cherubinischer Wandersmann 2:51
Gott ist ein lauterer Blitz und auch ein dunkles Nicht,
Das keine Kreatur erschaut mit ihrem Licht.
– Cherubinischer Wandersmann 2:146
Gott ist unendlich hoch – Mensch, glaube dies behende!
Er selbst findet ewiglich nicht seiner Gottheit Ende.
– Cherubinischer Wandersmann 1:41
Durch Weisheit ist Gott tief, breit durch Barmherzigkeit,
Durch Allmacht ist er hoch, lang durch die Ewigkeit.
– Cherubinischer Wandersmann 4:35
Gott ist da nichts als gut. Verdammnis, Tod und Pein,
Und was man böse nennt, muss, Mensch, in dir nur sein.
– Cherubinischer Wandersmann 1:129
Du fragst, wie lange Gott gewesen sei, um Bericht:
Ach schweig, es ist so lang, er weiß es selber nicht.
– Cherubinischer Wandersmann 3:180
Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht es ewig nicht.
– Cherubinischer Wandersmann 1:72
Nichts dauert ohne Genuss: Gott muss sich selbst genießen,
Sein Wesen würde sonst wie Gras verdorren müssen.
– Cherubinischer Wandersmann 5:75
Gott kann sich nicht entziehen, er wirket für und für:
Fühlst du nicht seine Kraft, so gib die Schuld nur dir.
– Cherubinischer Wandersmann 5:73
Der christliche Gott aber ist mehr als »der Eine«. Man definiert ihn ja in seiner dreifältigen Relation zu Welt und Mensch.
Gott Vater ist der Punkt; aus ihm fließt Gott der Sohn,
Die Linie, Gott der Geist, ist beider Fläch‘ und Kron‘.
– Cherubinischer Wandersmann 4:62
Gott Vater ist der Brunnen, der Quell der ist der Sohn,
Der heilige Geist der ist der Strom, so fließt davon.
– Cherubinischer Wandersmann 5:123
Es ist kein Vor und Nach; was morgen soll geschehen,
Hat Gott von Ewigkeit schon wesentlich gesehen.
– Cherubinischer Wandersmann 2:182
Weil in Gott kein Vor oder Nach ist, und in diesem Sinne entsprechend Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos sind, drum lässt sich auch keine Zeit bestimmen wo Gott die Welt erschaffen hat. Sie war von Ewigkeit her (als Idee) in ihm. Und so lässt sich sagen, dass Gott die Welt noch immer erschaffe, denn seine Schöpfung ist erst vollbracht am Ende der Zeit. Stellt sich aber die Frage:
Wann endet Zeit, wenn Gott ewig ist?
Dort in der Ewigkeit geschieht alles zugleich,
Es ist kein Vor und Nach, wie hier im Zeitenreich.
– Cherubinischer Wandersmann 5:146
Gott schafft die Welt immer noch; kommt dir das fremde für?
So wisse: Es ist bei ihm kein Vor noch Nach wie hier.
– Cherubinischer Wandersmann 4:165
Abwendung vom Guten – Hinwendung zum Tod
Silesius, wie auch viele vor oder nach ihm, nennen die Abwendung von Gott Sünde. Nur der Mensch kann sie begehen. Zwar wird Gott immer wieder auch den falsch handelnden oder sogar sündigen Menschen aufsuchen, doch er kann ihn nur erretten, wenn der Mensch bereit ist sich helfen zu lassen. Er muss sein »falsches Handeln« erkennen. Errettung ist nur durch »Mitwirken des Sünders« möglich. Wenn er wirklich will, in Erkenntnis der Welt, Gott, doch vor Allem seines Selbst. Unser gutes Handeln nämlich hilft sowohl dem Ich wie auch dem Du. Denn unser Tun und Handeln kann sich ganz und gar auf Gott ausrichten, so dass ein edler Geist durch uns hindurch wirkt – zum Wohle aller.
Das Gute kommt aus Gott; drum ist’s auch sein allein;
Das Böse entsteht aus dir – das lass du deine sein.
– Cherubinischer Wandersmann 5:230
Die Sünde ist anders nichts, als dass ein Mensch von Gott
Sein Angesicht abwendet und kehret sich zum Tod.
– Cherubinischer Wandersmann 4:69
Der Sonne tut’s nicht weh, wenn du von ihr dich kehrst:
Also auch Gotte nicht, wenn du in Abgrund fährst.
– Cherubinischer Wandersmann 5:56
Ein Fünklein aus dem Feuer, ein Tropfen aus dem Meer:
Was bist du doch, o Mensch, ohne deine Wiederkehr?
– Cherubinischer Wandersmann 5:369
Zwei müssen es vollziehen: Ich kann’s nicht ohne Gott,
Und Gott nicht ohne mich, dass ich entgeh‘ dem Tod.
– Cherubinischer Wandersmann 5:48
Des Menschen größter Schatz ist guter Will auf Erden;
Ist alles gleich verloren, durch ihn kann’s wieder werden.
– Cherubinischer Wandersmann 5:62
Du sprichst: das höllische Feuer wird nie verlöscht gesehen –
Und sieh, der Büßer löscht’s mit einer Augenträn‘!
– Cherubinischer Wandersmann 4:100
Wer sich nun also zum Guten kehrt, der wird notwendigerweise eine Neugeburt erfahren, eine Auferstehung. Als Christ darf man da ruhig glauben, dass der Heiland in der Menschenseele selbst neu geboren wird. Nur aber durch eine erneute Geburt, kann die Menschenwerdung Christi den Gläubigen erlösen.
Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren,
Und nicht in dir: du bleibst doch ewiglich verloren.
Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgerichtet, erlösen.
Ich sag, es hilft dir nicht, dass Christus auferstanden,
Wo du noch liegen bleibst in Sünde und in Todesbanden.
– Cherubinischer Wandersmann 1:61ff
Du musst Maria sein und Gott aus dir gebären,
Soll er dir ewiglich die Seligkeit gewähren.
– Cherubinischer Wandersmann 1:23
Ach Freude! Gott wird Mensch und ist auch schon geboren.
Wo da? In mir: Er hat zur Mutter mich erkoren.
Wie geht das vor sich? Maria ist die Seel‘,
Das Kripplein mein Herz, der Leib der ist die Höhl‘,
Die neue Gerechtigkeit sind Windeln und sind Binden,
Der Josef Gottesfurcht die Kräfte des Gemüts
Sind Engel, die sich freuen, die Klarheit ist ihr Blitz,
Die keuschen Sinne sind die Hirten, die ihn finden.
– Cherubinischer Wandersmann 3:238ff
Vernunft versus Glauben
Die Verse des Johannes Scheffler alias Angelus Silesius sollten all jene erreichen, die sich dem Christentum entfremdet haben. Er schrieb sie eben in einer Zeit des Wandels, dämmerte doch bereits damals jenes Zeitalter der Vernunft, das was man heute die »Aufklärung« nennt.
Man musste, um dies zu erreichen, seinen Leser zumindest verwundern, ja manchmal gar zu Missverständnissen Anlass geben. Denn nur so konnte seinerzeit jenes geistige Empfinden wieder geschärft werden, von dem sich die Menschen in den Jahrhunderten nach der Zeit der Kreuzzüge, anscheinend von Christus und vom Gottesglauben entfernt hatten.
Angelus Silesius schrieb dazu im Vorwort zur zweiten Auflage seines Cherubinischen Wandersmanns:
Weil folgende Reime seltsame Paradoxa oder widersinnige Reden, wie auch sehr hohe und nicht jedermann bekannte Schlüsse von der geheimen Gottheit in sich halten, ferner von der Vereinigung mit Gott und dem göttlichem Wesen, welchem man wegen der kurzen Verfassung leicht einen verdammlichen Sinn oder böse Meinung könnte andichten, ist also vonnöten dich deshalb zuvor zu erinnern. Und hierbei ist einmal und für allemal zu wissen, dass des Urhebers Meinung nirgends sei, dass die menschliche Seele ihre Beschaffenheit solle oder könne verlieren, und durch die Vergötterung in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen könne verwandelt werden, welches in alle Einigkeit nicht sein kann. Denn obwohl Gott allmächtig ist, kann er doch dieses nicht machen (und wenn er es könnte, wäre er nicht Gott), dass eine Kreatur wesentlich und natürlich Gott sei.
Silesius weißt also darauf hin, dass seine Reime durchaus »seltsame Paradoxa« enthalten, die eventuell der eine oder andere als widersinnig empfindet. Es ist eben nur schwer möglich die geheimen Zusammenhänge im Reich des Göttlichen in kurzen Versen so wiederzugeben, dass sie jeder ihrem inneren Sinn nach versteht.
Beim »Besprechen von Geheimnissen« lauern eben immer Missverständnisse, die, selbst wenn sie dann mal beigelegt sind, dennoch einen negativen Nachgeschmack hinterlassen. Fragt sich also, wieso man überhaupt über Geheimnisse sprechen soll. Vielleicht eben sind manche Bücher nicht für jeden geeignet. Heute aber, da jedem eigentlich alle Literatur zugänglich ist, lässt sich das nicht mehr vermeiden. Ratsam jedoch ist, dem eigenen Urteil immer Geduld voranzustellen.
Angelus Silesius ging es darum zu zeigen, dass Mensch und Gott nicht getrennt, sondern letzterer in ihm selbst enthalten ist, was auch bewusst gemacht werden kann. Da spricht man dann von der »Unio Mystica«, der Vereinigung von Gott und Mensch. Die engen Grenzen des Ich, werden dabei überschritten, das Ich verschmilzt mit dem Absoluten, dem Ganzen.
Ich bin nicht außer Gott, und Gott nicht außer mir,
Ich bin sein Glanz und Licht und er ist meine Zier.
– Cherubinischer Wandersmann 1:106
Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
Gott ist in mir das Feuer und ich in ihm der Schein;
Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?
– Cherubinischer Wandersmann 1:10f
Gott ist noch mehr in mir, als wenn das ganze Meer
In einem kleinen Schwamm ganz und beisammen wär.
– Cherubinischer Wandersmann 4:156
Wenn eine würdige Seele zu einer solch nahen Vereinigung mit Gott gelangt, ist sie von ihm ganz und gar durchdrungen, mit ihm eins. Könnte man dann die Seele sehen, so Silesius, würde man an ihr nichts anderes erkennen als Gott selbst, vom Glanz seiner Herrlichkeit absorbiert (eine Vorstellung die etwa auch dem buddhistischen Nirvana ähnelt, dem Erlöschen und Austreten der Seele aus dem Samsara, dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten).
Hiermit aber sahen sich die Skeptiker unter den Lesern des Cherubinischen Wandersmannes mit einer wichtigen Frage konfrontiert: Wenn sich die Seele ab einem gewissen Grade in Gott selbst auflöst, gibt es für sie auf dieser Stufe kein Gebet mehr, kein Verlangen mehr nach ewigen Heil. Auch der Glaube an Gott ist dann nicht mehr vonnöten, da die Seele von da ab in Gott ruht, in vollkommener, himmlischer Seligkeit.
Die Schwärmer unter den christlichen Frommen dürften sich mit solch angenommenen Voraussetzungen recht unwohl fühlen. Doch das solche oder andere ihn vielleicht missverstehen, liegt wohl auch daran, dass Silesius Werk in Reimen verfasst ist. Hätte er Prosa geschrieben, wäre seine Ausdrucksweise sicher vorsichtiger, klarer und unzweideutiger ausgefallen. Nur dann hätte er wohl eher Rechenschaft ablegen müssen vor jenen, »die verstanden haben«, als vor denen unter den ungebildeten Träumern.