Auch wenn wir recht schnell in die Tiefen des Bewusstseins hinabtauchen und da der Bedeutung unzähliger, dort verborgener Wahrheiten auf die Spur kommen, werden wir sie doch im nächsten Augenblick ebenso schnell wieder vergessen. Schon wissen wir nicht mehr ob das was wir dort fanden, doch nichts als Illusionen waren.
Aus einer ganz alten Geschichte aus der spirituellen Tradition des Ostens erfahren wir vom Avatar Krishna, der seine gelehrsamen Verehrer davor warnt, dass selbst der entschlossendste Sucher der Wahrheit leicht seiner Phantasie verfällt, doch in dem Glauben er sei zu wahrer Erkenntnis gelangt.
Da etwa ist die Rede von dem klugen Narada, der einst zu Krishna reiste, um ihn zu erklären was »Maya« sei. Zwar wusste er, dass es der Name für die Ursache aller Illusionen in der Welt sei, doch erhoffte sich von jenem Herabgestiegenden einen Weg gewiesen zu bekommen, der seine letzten Fragen beantworte, seine letzten Zweifel zerstreue.
Krishna freute sich über Naradas kommen und die beiden unternahmen einen Spaziergang. Da sagte Narada:
Die großen Weisen erzählen von Maya, als einer Kraft, durch die der ganze Kosmos als etwas erscheint, was er aber in Wirklichkeit nicht ist. Sie sagen, es seinen lediglich Vorstellungen von dir oder mir, von diesem und jenem, von jetzt und dann. Uns wird da von Maya quasi eine Vielheit der Dinge vorgegaukelt, obwohl alles eine Einheit ist. Darum frage ich Dich: Was ist diese Macht der Maya? Wirst du mir dies große Geheimnis enthüllen?
Da antwortete Krishna dem Narada:
Gerne erfülle ich Dir Deinen Wunsch
während die beiden ihren Spaziergang fortsetzten. Doch erst schwieg Krishna und es dauerte eine ganze Weile, bis Krishna dann meinte:
Narada, ich bin durstig. Wir können nicht nach Hause zurückkehren, um meinen Durst zu stillen. Kannst du mir aus dem Dorf da vorne einen Becher Wasser holen? Ich werde mich hier setzen und warten, bis Du zurückkehrst.
Dein Wunsch sei mir Befehl, O Krishna
stimmte Narada zu. Denn es erfüllte ihn der Wunsch, dem, Krishna, dieser irdischen Verkörperung des Gottes Vishnu einen Dienst zu erweisen. So also eilte Narada in das Dorf, kam an ein Haus und klopfte an der Tür.
Da öffnete ihm ein junges Mädchen. Sie war von so strahlender Schönheit, was Narada ganz und gar verzauberte. Schon hatte er Krishna und seine Bitte um Wasser vergessen.
Hals über Kopf hatte er sich in die Jungfrau verliebt und und sie anscheinend auch in ihn. Da fragte er sie gleich:
Wer bist du und wer ist dein Vater? Ich wäre sehr glücklich und gesegnet, wenn ich dich heiraten dürfte.
Mein Vater ist hier. Komm herein
antwortete sie. Daraufhin traf Narada den Vater der Frau und sogleich begann ein Gespräch über die Heirat.
Verehrter Herr, mein Name ist Narada. Ich bin ein ergebener Diener des Avatara Krishnas.
Ich habe mich in Ihre Tochter verliebt und möchte sie gerne heiraten. Es wäre die Gnade Brahmans, wenn Sie einwilligen würden.
Der Vater der jungen Frau nahm Naradas Vorschlag bereitwillig an und binnen weniger Tage fand die Hochzeit statt. In den nächsten zwölf Jahren kamen mehrere Kinder zur Welt, die das Familienleben des Paares mit größtem Glück erfüllte.
Eines Tages aber verdunkelte sich der Himmel ganz unheimlich. Es zogen Regenwolken auf und ein heftig heulender Wind umwehte ihr Haus. Schwere Donnerschläge erschütterten das ganze Dorf in der sie lebten. Große Regengüsse überfluteten da alles, so dass viele vor den steigenden Wassermassen flohen.
Narada sammelte seine wertvollsten Habseligkeiten ein, hielt sich mit seiner Frau und seinen Kindern an den Händen, trug die jüngsten Kinder auf den Schultern und watete in die reißende Strömung.
All sein Hab und Gut aber ward ihm bald genommen. Und er weinte um seinen verlorenen Reichtum. Dann riss das Wasser seinen geliebten ältesten Sohn mit sich, wie auch all seine übrigen Kinder. Narada brüllte vor Verzweiflung. Er klammerte sich verzweifelt an seine Frau und schrie sie an:
O Krishna, warum hast du mich verlassen? Warum beschützt du deinen treuen Diener nicht?
Auf einmal riss eine riesige Welle seine Frau von ihm weg. Er brach zusammen, denn nun war sein Leben sinnlos geworden. Alle Hoffnung hatte ihn in diesem Moment verlassen. Einen langen, verzweifelten Schrei hörte man da bis in weite Ferne. Doch wie als Antwort auf Naradas endgültige Verzweiflung, erhellte das grelle Licht eines gewaltigen Blitzes den dunklen Himmel, was ihn zwang seine Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, war er fassungslos über das, was vor ihm lag. Oder besser gesagt, was nicht vor ihm lag.
Der Sturm, die Verwüstung, seine Familie und das Dorf waren völlig verschwunden. Alles war durch das Antlitz Krishnas ersetzt. Der saß da ruhig unter einem Baum und sah ihn freundlich an.
Narada! Schon seit fast einer halben Stunde warte ich hier auf deine Rückkehr. Hast du mir das Wasser gebracht, um das ich gebeten hatte?
Ein schelmisches Lächeln spielte da auf Krishnas Gesicht. Krishna hatte Naradas Bitte schneller und kraftvoller erfüllt, als er je erwartet hätte. Ihm wurde gezeigt, wie schnell und leicht sein Bewusstsein von den Illusionen eines Trugbildes völlig vereinnahmt werden kann.
Da verstand Narada auf einmal alles. Er eilte zu seinem Meister, verbeugte sich tief vor dem Avatar und weinte wie ein Kind.
Heute,
sagte Narada,
hast du mir die Macht der Maya gezeigt, und ich war völlig getäuscht. Die Maya des Selbst, der Familie und des täglichen Lebens brachte mich dazu, die unbeständige Welt der Begierde zu verwechseln mit der Freude und Befreiung der Transzendenz. Auf der Suche nach Illusionen verlor ich dich und irrte stattdessen in einem Delirium der Illusion umher. Bitte, Krishna, möge ich nie wieder so beeinflusst werden.
Ohne zu zögern und voller Liebe erfüllte Krishna Naradas Wunsch und berührte ihn sanft. Daraufhin fand sich Narada in den höchsten Gefilden des Himmels wieder.