Dharma steht seit alter vedischer Zeit für ein universales, kosmisches Gesetz, das im Zentrum der indischen Religionen des Hinduismus, Buddhismus, Sikhismus und Jainismus steht. Doch die Bedeutungen des Wortes »Dharma« erstrecken sich über ein weit größeres Feld, da es eine sehr lange und vielfältige Geschichte hat.
Viele Übersetzer der heiligen Schriften Indiens waren bereits an dem Versuch gescheitert, ein deutsches Wort zu finden, dass dem Begriff genau entspricht, denn in Übersetzungen des Rigveda (ältester Teil der heiligen Lehre der indischen Veden), bedeutet Dharma mal Gesetz, doch auch Ordnung, Sitte, Vorbild, Pflicht oder (positive) Qualität.
In jeder der genannten vier großen Religionen Indiens, hat der Dharma-Begriff außerdem seine eigene Gewichtung, wenn es um die Art und Weise geht, wie sich ein Mensch mit seinem inneren und dem gemeinschaftlichen Dharma verbindet.
Hindus sehen im Wort Dharma eine von vier Komponenten, die die Ziele des Menschenlebens markieren. Da steht Dharma für eine Ordnung, die von einem Menschen eine besondere Verhaltensweise fordert, um im Einklang mit den Gesetzen des Universum ein tugendhaftes Leben zu führen.
Buddhisten verstehen darunter etwas ganz ähnliches, wobei sie nach dem Dharma (manchmal auch Dhamma genannt) als kosmisches Gesetz und Ordnung suchen, wie diese in den Lehren des Buddha in den sogenannten vier edlen Wahrheiten über das Leiden zu finden sind:
- Die edle Wahrheit über das Leiden,
- die edle Wahrheit über die Ursache des Leidens,
- die edle Wahrheit über die Beendigung des Leidens,
- und die edle Wahrheit über den Pfad der Ausübung, der zur Beendigung des Leidens führt.
Im Jainismus bezieht sich Dharma auf alle Lehren, die sich auf die Läuterung und moralische Transformation des Menschen beziehen.
Die Sikh verstehen unter dem Dharma-Begriff den Weg der Rechtschaffenheit und der religiösen Praxis, zur Erfüllung der Pflichten gegenüber Gott.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass Dharma die Kraft ist, die die Existenz der menschlichen Gemeinschaft aufrechterhält. Sie bewirkt im Menschen ein Gewissen, was ihm die Möglichkeit verleiht, tugendhaft zu handeln.
In der Bhagavad Gita
Tugendhaftes Handeln jedoch bedeutet nicht für jeden Menschen genau das Gleiche. Je nach Alter, Geschlecht und sozialem Umfeld gibt es unterschiedliche Pflichten. Daher hat jeder Mensch sein eigenes Dharma. Was für eine Frau richtig ist, ist es vielleicht nicht für einen Mann, oder was für einen Erwachsenen richtig ist, ist es vielleicht nicht für ein Kind. Dies wird anschaulich beschrieben in der indischen Bhagavad Gita: der wichtigsten heiligen Schrift im Hinduismus. In einem erzählerischen Rahmen geht es da um einen Dialog zwischen dem Pandava-Fürsten Arjuna und seinem Führer und Wagenlenker Krishna (dem achten Avatar des Gottes Vishnu). Es herrscht Krieg zwischen den guten Pandavas und den bösen Kauravas, was für Arjuna aber ein großes Dilemma bildet, zumal sich unter den Heerführern der gegnerischen Armee seine Verwandten befinden: Eine Tatsache die ihn schwer plagt und er sich fragt, ob er nicht besser auf den Krieg gegen die Kauravas verzichten soll. Darum sucht er Rat bei seinem Wagenlenker Krishna. Dessen Reden stehen im Zentrum der Bhagavad Gita. Krishna rät dem Arjuna seine Krieger-Pflicht zur Aufrechterhaltung des Dharma zu erfüllen, in »selbstlosem Handeln«. Krishna aber versichert ihm, dass diese besondere Schlacht rechtmäßig ist und er sie, wegen seines Dharma als Krieger, auch kämpfen muss, was jedoch, von den Ergebnissen seiner Handlungen distanzierend, innerhalb der Regeln des Dharma erfolgen muss. Denn richtiges Handeln geschieht immer nur in Übereinstimmung mit dem Dharma, als Dienst an der Menschheit und an Gott.
Erfüllung des eigenen Dharmas
Auf individueller Ebene kann sich Dharma auf eine persönliche Mission oder Absicht beziehen, wobei das Dharma eines Individuums vorherbestimmt ist. Je nach Karma, so die östliche Religionstradition, wird eine Seele in ein bestimmtes soziales Umfeld hineingeboren, entweder als Belohnung oder als Bestrafung für Handlungen in früheren Leben. Das ist festgelegt durch universelle Gesetze, wonach alle Wesen ihr eigenes Dharma haben: Sogar die Sonne muss darum scheinen und die Bienen darum Honig machen. Im Buddhismus bedeutet Dharma außerdem, in Übereinstimmung mit den Lehren des Buddha und den Vier Edlen Wahrheiten zu handeln.
Einzige Möglichkeit für einen Menschen um voranzukommen besteht also darin, innerhalb dieses Weges zu leben und auf die eigene Bestimmung hinzuarbeiten. Diese Bestimmung des Lebens ist von zentraler Bedeutung, denn nach der Bhagavad Gita ist es besser das eigene Dharma schlecht zu erfüllen, als stattdessen das eines anderen gut zu erfüllen (also zu verbessern). Das Ergebnis eines Lebens auf diesem »richtigen Weg« soll Selbstverwirklichung und Erleuchtung sein.
Es heißt darum, dass alle Wesen ihr Dharma akzeptieren müssen, damit in der Welt Ordnung und Harmonie herrschen. Wenn ein Individuum seinem Dharma folgt, geht es seiner wahren Berufung nach und dient allen anderen Wesen im Universum, indem es seine wahre Rolle erkennt (zumindest aber versucht zu erkennen) und lebt. Vor allem bringt ein Leben, das mit dem Dharma in Einklang steht, ein Gefühl der Freude und Erfüllung.
Das Rad des Dharma
Im Buddhismus wird das Symbol des Dharmachakra – das Rad des Dharma – verwendet, um die vom Buddha gelehrte universelle moralische Ordnung anzudeuten. Es steht für ein Beschreiten des Pfades zur Erleuchtung. Als der Buddha seine erste Predigt hielt (wie im Dhammacakkappavattana-Sutta beschrieben), setzte er das »Rad des Dharma« in Bewegung, um damit die zyklische Natur des Lebens in der Welt zu symbolisieren. Im Buddhismus gilt das Dharmachakra (auch im Hinduismus) darum als Glückszeichen und bildet eines der ältesten bekannten Symbole der indischen Kunst, seit der Zeit des buddhistischen Königs Ashoka (304-232 v. Chr., Herrscher der indischen Dynastie der Maurya). Das Dharmachakra wird oft dargestellt zusammen mit dem dreifachen Juwel des Triratna (das im Buddhismus drei Kostbarkeiten symbolisiert: Buddha, Dharma und Sangha«, wobei »Sangha« für die buddhistische Gemeinschaft steht).
Den ersten Buddhisten war das Dharma-Rad ein Symbol für den idealen König, den »Chakravartin«, den »Dreher des Rades«. Der Buddha Siddhartha Gautama hätte sich entscheiden können, selbst dieser raddrehende König zu werden. Stattdessen aber wurde er zu dessen geistigem Gegenstück: Einem raddrehenden Weisen. Was der Buddha da als Dharma-Rad drehte, symbolisierte in erster Linie Weisheit, Wissen und Einsicht, womit er verwies auf das ewige kosmische Gesetz, die universelle moralische Ordnung und auf die Lehre und den Weg im Buddhismus.
Manchmal ist da auch die Rede vom »Rad des Samsara« (Samsara-Chakra), das »Rad des Leidens«. Die Unwissenheit ist seine Nabe, weil sie seine Wurzel ist. Altern und Tod bilden das Rad, die Speichen das bedingte Entstehen, das zur leidhaften Kette der Wiedergeburten führt. Durch die Praxis des buddhistischen Pfades jedoch lässt sich diese Drehrichtung umgekehren und damit heilen. An dieses vom Buddha gefundene Gesetz erinnern auch die tibetischen Gebetsmühlen, deren sich bewegende Räder die heiligen Zyklen der kosmischen Ordnung in der Natur symbolisieren.