Im Folgenden wollen wir uns mit besonderen Aphorismen befassen, die dem Sufi im praktischen Leben tatsächlich helfen. Hodscha Abdul Khaliq Ghidschduwani († 1179), ein Sufi-Sheikh des Naqshbandi-Ordens, sah darin einen Weg der Meister der Weisheit.
Er spricht da von elf Geheimnissen, auf persisch »Kalimat-i qudsiya«: Heilige Worte der Tugend. Sie bilden ein praktisches System spiritueller Praxis, die dem Gottsucher dabei helfen, mystische Erlebnisse zu erfahren – auf dem Weg zu spiritueller Vollkommenheit.
1. Bewusst Atmen – Hosch dar Dam
Von zentraler Bedeutung in der Tradition des Sufi-Ordens der Naqshbandiyya, ist eine in jedem Augenblick bewusst erlebte Atmung. Dabei geht es darum, das eigentlich Göttliche im Atemvorgang zu erfahren, durch das unser Körper lebendig, gesund und bewusst lebt.
Wenn wir uns nun einmal den arabischen Namen für Gott ansehen – Allah –, so setzt sich das für diesen Namen im Arabischen geschriebene Symbol الله zusammen aus vier Buchstaben:
- einem »Alif« ﺍ – dem ersten Buchstaben des arabischen Alphabets,
- aus zweimal dem »Lam« ﻝ – dem elften Buchstaben und
- aus einem »Ha« ﻩ – dem fünften Buchstaben, der alleinstehend in seiner Form einem geöffneten Mund ähnelt.
Dieser letzte der vier Buchstaben, das Ha, gilt als identisch mit dem Geräusch das ertönt wenn wir ausatmen. Und so bildet das Ha die Essenz des Namens Allah, die von ganz alleine jeden unserer Atemzüge begleitet. Alles Leben also, und Leben ist Atmen, ist demnach angewiesen auf die Äußerung dieses edelsten aller Namen.
Der ehrenwerte Sufi-Meister Maulana Dschami (1414-1492) meinte in den Strophen seiner Stanzen, dass wir uns, im übertragenen Sinne, allerdings in diesem letzten Buchstaben, dem Ha des heiligen Namen Allah, »verlieren« sollten:
Dein Alphabet, ich bin mir sicher Du weißt darüber
Darin verlieren wir uns im Ha mit jedem Atemzug den wir hauchen
Äußere ihn vorsichtig, und sei achtsam:
Es ist kein gewöhnlicher Laut den Du erzeugst.
Und solcherart »bewusstes Verlieren«, auf das Dschami hier verweist, meint ein Lösen von dem Glauben an eine von Gott getrennte Identität. Es geht da um ein Aufgehen in Allah, im Bewusstsein dieser nicht definierbaren Essenz erhabener Wahrheit – dem ﻩ Ha, dem gehauchten Buchstaben. Ha steht für die Befreiung von allen Beschränkungen unseres körperlich-sinnlichen, empfindenden Seins. Im Bewusstwerden des geatmeten Ha, so Dschami, transzendiere einer alles, das seine Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit eingrenzt. Alle die aber nie davon hörten, für sie bleibt diese Essenz des Namens الله Allah, das Ha, absolut unerkannt.
2. Auf die eigenen Schritte achten – Nazar bar Qadam
Ein Sucher soll stets auf seine Schritte achten. Das heißt aber nicht etwa, dass er immerzu auf seine Füße schauen soll, was ihn ja schon bald ins Stolpern brächte. Vielmehr geht es hier darum, das man sein Vorankommen auf der spirituellen Reise sichert, aufrecht sich geradeaus bewegt, jederzeit und immer aufpasst in dieser Bewegung. Sheikh Sa’d Al-Din Kaschghari (†1456) sagte hierzu:
Auf die Schritte zu schauen bedeutet, dass der Suchende beim Kommen und Gehen (immer mal wieder) auf die Oberseite seiner Füße schaut und dadurch seine Aufmerksamkeit nicht zerstreut wird, indem er auf etwas schaut, auf das er nicht schauen sollte.
Ein Sucher führe sich unentwegt, aufmerksam in Richtung seines Ziels und sei sich dabei der eigenen Absicht bewusst. Nichts soll einen da mehr abbringen können, vom Erreichen des Ziels – vorausgesetzt natürlich, man hat ein solches. Es geht darum das Bewusstsein aufrecht zu erhalten und auch offen zu sein für besondere Gelegenheiten, um zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.
Im Koran lesen wir dazu:
O ihr Menschen! Esst von dem, was es auf der Erde gibt, als etwas Erlaubtem und Gutem, und folgt nicht den Fußstapfen Satans! Er ist euch ein deutlicher Feind. […] O die ihr glaubt, tretet allesamt in den Islam ein und folgt nicht den Fußstapfen Satans! Er ist euch ja ein deutlicher Feind.
– Sure 2:168,208
3. Reise ins Heimatland – Safar dar Watan
Auf dieser Reise übergeben wir uns aus der Welt der Möglichkeiten, in die Welt der verwirklichten Erkenntnis. Es geht da um eine innere Reise, in der man in sich geht, in sich den Ursprung seines Seins findet. Auf so einer inneren Reise erfahren wir, dass sich auf unserem Lebensweg zwar auch viele Fehlschläge und Missgeschicke ereignen, doch dass alle Fehler gleichzeitig wichtige Lektionen sind, aus denen wir lernen können (sogar lernen sollen!) – wobei wir ausgehend von schlechten, allmählich zu lobenswerten Eigenschaften finden.
Wenn die Rede ist von einer Heimreise, so wird damit hingewiesen auf die Vorbereitung einer Transformation, die den Menschen aus einem subjektiven Traumzustand herausführt, damit er auf seinem Weg seine göttliche Bestimmung erfüllen kann. Der indische Sufi-Gelehrte Ahmad Sirhindi (1564-1624) sagte dazu einmal:
Dieser gesegnete Ausdruck (Reise ins Heimatland) bedeutet, in sich selbst zu reisen. Die dabei geernteten Früchte, stellen die letzte (spirituelle Übung auf dem Weg) an den Anfang, was eines der Merkmale des Naqshbandi-Weges ist. Und obwohl diese (innere) Reise auch in anderen Tariqas (Sufi-Orden) zu finden ist, findet man sie erst am Ende, nach dem ‚Reisen auf den Horizonten‘ (Bezug nehmend auf den Koran in Sure 41:53, in der es heißt: ‚Wir werden ihnen Unsere Zeichen auf den Horizonten und in ihrem Inneren zeigen, bis sie wissen, dass Er (Allah) der Wirkliche ist‘).
4. Alleinsein in der Menge – Khalwat dar Anjuman
Als jemand den Gründer des Naqshbandi-Sufi-Ordens, Shah Bahauddin Naqshband (1318-1389), einmal fragte nach den grundlegenden Prinzipien spiritueller Entwicklung, antwortete er:
Alleinsein in der Menge, heißt im Außen mit Menschen zu sein, doch im Innern mit Gott, dem Verherrlichten.
Lernen frei zu sein, inmitten all der unzähligen Abhängigkeiten im Leben, heißt, dass jemand sogar so weit in geistiger Versenkung sich an die Allgegenwart Gottes erinnere, dass er, selbst wenn er sich durch eine viel befahrene Straße bewegte, nichts von dem Lärm dort mitbekäme.
Dieses vierte Prinzip des Sufi-Weges beschreibt die Entwicklung der Fähigkeit, sich in Gegenwart äußeren Lärms, Störungen und Verwirrung, davon zu distanzieren und ruhig zu bleiben, im Dhikr: Dem Gedenken an Gott, durch stille Rezitation seiner heiligen Namen und Sätze, wie auch den Versen der Suren des heiligen Koran.
Sheikh Maulana Dschami in einer, dem persischen Maler Behzad zugeschriebenen Miniatur aus dem Jahr 1490.
Natürlich bedeutet das nicht, dass man umherirrt und so tut, als bekäme man nichts mehr vom Außen mit. Nur ein Narr würde so handeln. Vielmehr geht es darum, sich immer in die Lage zu versetzen, seine Aufmerksamkeit auf das Äußere zu lenken, sobald nötig, doch dann wieder zurückzukehren in die Übung des inneren, des stillen Dhikr. Obwohl ein Sufi äußerlich in der Welt ist, ist er oder sie innerlich immer bei Gott.
5. Allahs Gedenken – Yad kard
Sich im Herzen und gleichzeitig mit der Zunge erinnern, wie umgekehrt mit der Zunge sprechend, auch im Herzen zu rezitieren: Stiller oder gesungener Dhikr erweckt das Herz, um sich die göttliche Wahrheit (Al Haqq) zu vergegenwärtigen. Das ist wahrer Dhikr. Der weise Hodscha Ubaidullah Ahrar (1404-1490) meinte dazu einmal:
Die wahre Bedeutung des Dhikr ist das innere Gewahrsein Gottes, dem Verehrung gebührt. Dhikr beabsichtigt dieses Bewusstsein zu erlangen.
Wenn da nun aber die Rede ist von einem Erinnern, dann meint das auch ein Sich-Zurückversetzen an gemachte, positive Erfahrungen, wie auch daran, dass man ein Teil einer Sufi-Tradition ist, aus der man positive Energie beziehen und Kraft schöpfen kann.
6. Zurückhaltende Selbsteinschränkung – Baz gascht
Dieses Prinzip des Sufi-Weges beschreibt das zielstrebige Trachten nach göttlicher Wahrheit, indem man sich heim begibt in die Gegenwart Gottes. Das erfordert zuerst einmal sehr große Selbstdisziplin, muss man sich dafür doch unermüdlich auf dem inneren Weg der Heimkehr bewegen, was wohl sicher nur dem gelingt, der in sich Geduld kultiviert hat.
Stets sollte ein Sufi versuchen seine Gedanken auf das Göttliche hin auszurichten und nicht abschweifen zu lassen. Das erfolgt etwa in einem inneren Rezitieren der Schahada:
أَشْهَدُ أَنْ لَا إِلَٰهَ إِلَّا ٱللَّٰهُ وَأَشْهَدُ أَنَّ مُحَمَّدًا رَسُولُ ٱللَّٰهِ
Ashadu ala ilaha illallah, wa-ashadu anna muhammadan rasulullah.
Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah, und ich bezeuge, dass Mohammed sein Prophet ist.
Andererseits besteht die in diesem sechsten Prinzip beschriebene Heimkehr auch darin Reue zu zeigen, über das, was man an Gedanken, Gefühlen und Taten bedauert, um damit allmählich zu einer Rechtschaffenheit zu finden.
7. Achtsamkeit – Nigah dascht
Hier geht es zum einen darum die Gedanken an das Weltliche auszublenden, durch wachsames Kontrollieren der eigenen Aufmerksamkeit. Achtsamkeit meint ein wachsames Gewahrsein hinsichtlich vorüberziehender Gedankengänge. Der Sufi vermag dabei sein Herz zu bewahren, vor etwaig schlechten Gedanken.
Zum anderen sagen die Sufis der Naqshbandiyya, dass es für einen Suchenden bereits eine großartige Leistung ist, sein Herz für nur fünfzehn Minuten vor schlechten Neigungen zu schützen.
Wer diese beiden Übungen vollbringt, wird die geistigen Regungen seines Herzens erkennen. Und, wie der Heilige Prophet Mohammed (as) einmal sagte:
Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.
Achtsamkeit bedeutet, wenn der Suchende sein Herz auf die Bedeutung dieses heiligen Satzes ausrichtet:
لا إله إلا الله
La ilaha illa Allah
Es gibt keinen Gott außer Allah.
Keine anderen Gedanken finden dann noch Eingang in sein Herz.
Sa’d Al-Din Kaschghari sagte:
Der Suchende muss eine oder zwei Stunden lang, oder wozu auch immer er fähig ist, seinen Geist festhalten und verhindern, dass Gedanken an etwas anderes (als Gott) eindringen.
Wir sollten uns in solch erhabenen Üben auf die Allgegenwart Gottes konzentrieren und dabei dennoch offen bleiben, für intuitiv Empfundenes und die vielen günstigen Chancen, die sich uns allezeit überall eröffnen – Möglichkeiten mit denen wir gute, positive Wirkungen in der Welt vollbringen können.
8. Erinnerndes Gewahrsein – Yad dascht
Es geht dabei um ein fortwährendes Besinnen auf die göttliche Gegenwart im Herzen, was eine allmähliche Annäherung an die Wirklichkeit Gottes ermöglicht. Dem Sucher wird damit bewusst, dass die Trennung von den niederen Aspekten seines Egos, nur durch objektive Liebe geläutert werden kann. Was die Sufis als »Selbstverleugnung« bezeichnen, bringt sie in dieses letzte Stadium der Selbstvervollkommnung, worin sie grenzenlose Freude erfahren, denn sie haben da alle egoistischen und bösen Gedanken überwunden – ja sogar die Bewertung all dessen überwunden, was sich an Positivem in ihrem Leben ereignet (hatte). Ausschließlich nämlich das, was die Sufis Al Haqq nennen, die wahrhaftig göttliche Weisheit (auch: Wahrheit), bleibt einem so Erfahrenden in seinem Geiste erhalten. Hodscha Ahrar schrieb hierzu:
Das Erinnernde Gewahrsein ist ein Ausdruck des Geistes, der die Dauerhaftigkeit des Bewusstseins der glorreichen Wirklichkeit bedeutet. Es bedeutet die Göttliche Gegenwart, ohne selbst dabei sich in Nichtsein aufzulösen.
9. Zeitbewusstsein – Wuquf Zamani
Bahauddin Naqshband sagte, dass das Bewusstsein der Zeit den Schüler sowohl zu dem mache was er ist, wie ihn ebenso führen können solle. Das bedeutet: Jeden Augenblick auf den eigenen Geisteszustand achten und wissen, ob da ein Grund ist dem Allmächtigen zu Danken oder aber Reue zu zeigen. Der Suchende muss dabei wissen, wie viel Zeit er auf dem Weg zu seiner spirituellen Reife verbracht hat.
Wenn hier die Rede von Zeit ist, meint dass die Spanne in der man achtsam, jedoch gleichzeitig ganz nüchtern in einem Hochgefühl verbringt, zwischen Zerstreuung und Sammlung.
Hierüber meinte Dschami, man solle darüber »Buch führen«, um sich stets dem täglichen Umfang seiner Geistespräsenz immer bewusst zu bleiben.
10. Zahlenbewusstsein – Wuquf ‘Adadi
Dschami galt außerdem:
Wuquf ‘Adadi ist die Beobachtung der Anzahl der Dhikrs und ob diese Beobachtung auch zu (besonderen) Ergebnissen führt oder eben nicht.
Bahauddin Naqshband:
Die Beobachtung der Anzahl der Wiederholungen des Dhikr des Herzens dient dazu, geistige Aktivität zu sammeln, die zuvor ganz zerstreut und unfassbar war.
Darum gilt, das dieses »Buchführen« über den Dhikr nicht eines alltäglich gebräuchlichen Zählens gleich kommt, sondern eher ein bewusstes Gewahrsein über die Wiederholungen der heiligen Namen und Verse (etwa durch das Abzählen an einem islamischen Rosenkranz, dem »Misbaha« beziehungsweise »Tesbih«). So soll das Herz vor schlechten Gedanken bewahrt werden.
Den fortgeschrittenen Geistesschüler führt diese Praxis auf die Ebenen der Intuition. Das hilft ihm sich auf seinem spirituellen Pfad den höheren Lehren zu nähern.
11. Herzbewusstsein – Wuquf Qalbi
Wer dieses Prinzip in sich verwirklichen konnte, dessen Herz hat Gottesbewusstsein erlangt. In so einem Menschen ist die göttliche Liebe erwacht. Hier ist sich einer bewusst geworden, dass seine Ego-Existenz ein Hindernis für seine endgültige Verwandlung ist, und darum fürchtet er sich nicht mehr, sie zu opfern – hat er doch unendlich viel mehr zu gewinnen, als er dabei verlieren könnte.
Über das Ququf Qalbi sagte Ahrar:
Es ist ein Ausdruck, der ein Gewahrsein und ein Herzbewusstsein gegenüber der Höchsten Wirklichkeit meint, die so empfunden wird, dass das Herz kein Bedürfnis mehr verspürt, nach irgendetwas anderem, als nur dieser ultimativen Wahrheit.
Herzbewusstsein bedeutet, dass das Herz beim Geliebten (also bei Gott) ruht, so als ob nichts und niemand anderes existiere.
Bahauddin Naqshband hielt es nicht für notwendig, während des Dhikr den Atem anzuhalten, wie das in einigen Tariqas üblich ist, auch wenn er diese Praxis dennoch für nützlich hielt. Wenn ihm ebenso Wuquf Zamani (Zeitbewusstsein) und Wuquf ‘Adadi (Zahlenbewusstsein) weniger wichtig erschienen, hielt er im Gegenteil dazu
die Einhaltung von Wuquf Qalbi für das Wichtigste und Notwendigste, weil es die Zusammenfassung und Essenz der Absicht des Dhikr ist.