Illustration zum Polarstern - ewigeweisheit.de

Da ist Licht über Licht

Der Weg des Sufi führt einen Menschen auf eine innere Reise zum Ende jenes göttlichen Seelenstrahls, um den sich einst sein menschlicher Körper hüllte, damals, als sein Herz im Mutterleib zu schlagen begann. Damit ist eine innere Wahrheit verbunden, der sich der Sucher nähert, von einer Stufe der Entwicklung zur nächsten.

Worum es da eigentlich geht, aber ist nicht ganz einfach in die richtigen Worte zu kleiden, denn was einer auf dem angedeuteten Weg erlebt ist seine individuelle Erfahrung, die aller Beschreibungen entbehrt. Beschreibungen beziehen sich immer auf ein Außen, worüber wir durch die Aufnahme des Wissens anderer Menschen erfahren. Und es bleibt immer das Wissen der Anderen. Dabei wartet in der Dunkelheit unseres Inneren bereits alles, was wir wissen müssen. Es bedarf daher einer Sehnsucht, einem Sehnen, einem Begehren, um unser Inneres nach außen zu kehren, bis sich uns die Geheimnisse des Astralen, bis sich uns der Lichtkörper unseres verborgenen Seins offenbart.

Was ein Sucher dabei in sich erlebt ist ganz wundersam, was sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch die Erfahrung die einer dabei macht, ist so vollkommen wunderbar, dass es schon seit Jahrhunderten in verschiedenen Sufi-Dichtern den großen Wunsch auslöste, es in Versen zu beschreiben. Um das auszudrücken, verwendeten sie eine symbolträchtige, alte Sprache der Liebe.

Das Herz auf seiner Reise zu Allah, dem Erhabenen, gleicht dem eines Vogels. Die Liebe ist sein Kopf, und Furcht und Hoffnung sind seine beiden Flügel. Wenn der Kopf gesund ist, dann werden die beiden Flügel gut fliegen. Wenn der Kopf abgeschnitten wird, stirbt der Vogel. Wenn einer der beiden Flügel beschädigt ist, wird der Vogel für jeden Jäger und jedes Raubtier angreifbar.

– Ibn Al-Qayyim Al-Jawziyah, Madaridsch Al-Salikin 1:513

Wenn wir sagten, dass der Suchende, der Sufi-Schüler sich auf seinen Weg begibt, beginnt damit auch seine »Suche nach dem Geliebten«, nach Gott. Er macht sich auf in der Hoffnung, auf seiner inneren Reise Wahrheit und Frieden zu finden.

Allahs Liebe zu einem Diener besteht darin, ihn in seine Nähe zu bringen, indem er […] sein Inneres von den Trübungen der Welt reinigt und den Schleier über seinem Herzen lüftet, bis er (der Suchende) ihn (Gott) bezeugt, als könne er ihn mit seinem eigenen Herzen sehen.

– Al-Ghazali, Ihyaʾ Ulum Al-Din 4:329

Dort nur, in seinem Herzen, das weiß der wahre Sufi, vermag er die heilige Gegenwart des Geliebten zu erfahren. Allein in seinem Herzen kann er über den Geliebten, kann er über das Wesen Gottes reflektieren, ihm gewahren, im polierten Spiegel seines mystischen Herzens.

Aus einem tiefen Brunnen

Nun verwenden die Sufis in ihrer Psychologie den arabischen Namen »Qalb«, um damit dieses mystische Herz zu bezeichnen. Sie meinen damit nicht das physische Herz. Vielmehr steht der Name Qalb für das spirituelle Organ, über das jeder Mensch in sich verfügt. Es gleicht einem geheimnisvollen tiefen Brunnen, aus dem etwas aufsteigt, dass ihn in seiner Brustmitte, als eine von Weisheit durchtränkte Kraft durchströmt und ihm dabei vor dem Auge seines Herzens als flackernder, göttlicher Seelenfunke erscheint. Das Licht dieses göttlichen Funken schimmert weder hell noch dunkel, sondern ist beides zugleich. Damit entspricht diese scheinbare Unvereinbarkeit dem, wofür im Makrokosmos das Licht von Polaris steht, dem nördlichen Stern des Himmelspols, auf den die Rotationsachse unseres Planeten ausgerichtet ist und um die sich alles dreht, im stetigen Wechsel zwischen hellem Tag und dunkler Nacht, deren Gegenwart auf den beiden Seiten der Erde immer gleichzeitig ist.

Es ist das jenseits des Verstehens durch intellektuelle Überlegungen. Es muss jeder in sich selbst erfahren – durch ein kontemplatives Erkunden seiner psychischen Körpermitte, seinem mikrokosmischen Pol. Dabei lernt jemand, was das Leuchten des Feuers dieses heiligen Seelenfunken hütet.

Sobald ein Mensch, wie die Sufis sagen, diese mystische Erfahrung in sich erlebte, wird er in sich den großen Wunsch verspüren, sein spirituelles Herz (Qalb) immer weiter zu reinigen und damit zu läutern. Denn er erlebt in sich das Aufgerichtetwerden seiner ehrenwerten Seele, was ihn, wie es heißt, eine Liebe zu anderen Menschen und ein tiefes Mitgefühl für alles Leben auf der Erde erfahren lässt.

Lust und Getrenntheit

Ein Sufi, ganz gleich welchem Orden (arab. »Tariqa«) er angehört, lernt von seinem Lehrer (arab. »Sheikh«, weiblich »Sheikha«), dass es weitaus wichtiger ist die »Intelligenz« seines spirituellen Herzens zu entwickeln, als sich allein nur in seinem rationalen, abstrakten Denken zu üben. Es heißt, dass so wie das physische Herz den Körper mit Blut versorgt, entsprechend das spirituelle Herz die Seele versorgt mit geistigem Licht und Weisheit – die Seele, die aus dem Wirken Gottes im Himmel entstand und, sagen die Sufis, vom kosmischen Norden auf die Erde kam und über diesen Punkt die Erde dereinst wieder verlassen wird, um die Weiten des Kosmos zu durchmessen.

Auch wenn im Westen die Emotionen und die Gefühlswelt eines Menschen, normalerweise mit dem Herzen assoziiert wird, hat es als das geistige Qalb bei den Sufis eine andere Funktion. Sufis sehen in den Gefühlen eines Menschen, in seinen Gemütsbewegungen die Wirkungen dessen, was seinen Anfang in der »Triebseele« nimmt, bezeichnet mit dem arabischen Namen »An-Nafs Al-Ammara«: Dem niederen Selbst.

Aufgabe des geistigen Herzens, also Qalb, ist die Funktion der Vermittlung zwischen der Nafs und dem Geistigen, das heißt, die Nafs Al-Ammara zu kontrollieren und den Menschen, im Bewusstwerden von Qalb, zu seiner reinen, wahren, göttlichen Geistigkeit zu führen. Zwar ist dieser göttliche Geist von Qalb in jedem Menschen gegenwärtig, doch davon wissen die meisten Menschen nichts.

 

Rābiʻa al-ʻAdawiyya al-Qaysiyya (arabisch: رابعة العدوية القيسية) oder einfach Rabiʿa al-Basri (717-801 n.Chr.) war eine weibliche muslimische Sufi-Heilige - ewigeweisheit.de
Rabiʿa von Basra (714-801) war eine muslimische Sufi-Heilige.

 

Das Trennende des Niedere Selbst

Einer Legende nach soll die Sufi-Mystikerin Rabiʿa von Basra (714-801) einmal einen ihrer Bediensteten gefragt haben:

Wer wird uns zum Geliebten führen?

worauf ihr Diener antwortete:

Unser Geliebter ist stets mit uns, aber diese Welt hält uns von ihm scharf getrennt.

Und es ist eben dieses trennende Prinzip, dass die Sufis mit den Wirkungen der Nafs in Zusammenhang sehen. Wer diese Trennung aufheben will, muss gegen sein niederes Selbst kämpfen. Es kommt dabei quasi zu Reibereien zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Seele, zwischen ihrem menschlichen und dem animalischen Teil. Dabei ist das »Wirken der Tierseele« verantwortlich für die besagte Trennung von Qalb vom menschlichen Körper.

Was damit gemeint ist, veranschaulicht die 24. Sure des Koran mit dem Titel »Das Licht« (arab. »Al-Nur«) sehr schön:

Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis seines Lichts ist wie das einer Nische, in der eine Lampe steht. Diese Lampe befindet sich in einem Glas, als wäre es ein funkelnder Stern. Ihr Öl kommt von einem gesegneten Olivenbaum, der weder östlich noch westlich davon steht. Sein Öl leuchtet beinahe von selbst, ohne dass ein Feuer es je berührt hat. Licht über Licht. Allah führt zu Seinem Licht, wen Er will.

– Sure 24:35

Das Bild der »Nische« ließe sich assoziieren mit dem menschlichen Körper, der den Wirkungen der Nafs Al-Ammara unterliegt. Qalb, das Herz, gleicht dem Glas, einem gläsernen Kristall (»ein funkelnder Stern«), worin das flammende Licht der Lampe strahlt. Das Symbol der Lampe repräsentiert das, was die Sufis »Aql« nennen: Der wahrnehmende, besonnene, Verstand, einem göttlichen Licht gleichend, durch das sich dem Menschen alles zeigt, was seine Sinne nicht zu erfassen vermögen.

Des Menschen wahres Selbst aber repräsentiert wohl der »gesegnete Olivenbaum« der sich weder »östlich noch westlich« verorten lässt (und damit weder mit dem Sonnenaufgang noch mit dem Sonnenuntergang in Verbindung steht) und über dessen Öl der zitierte Koran-Vers sagt, es »leuchtet beinahe von selbst«.

Durch Mittag und Mitternacht

Was aber hat es auf sich, wenn wir uns diesen möglichen Zuordnungen, aus Sicht esoterischer Betrachtung weiter nähern?

Um Antworten auf diese Frage zu finden, sollten wir uns zuerst einmal anschauen, was gemeint ist mit der Aussage über den »gesegneten Olivenbaum, der weder westlich noch östlich davon steht«. Würden wir ihn nämlich als ein Symbol für den Weltenbaum deuten, ginge damit einher das polare Prinzip – sowohl eines Oben und Unten, repräsentiert durch den Wipfel und die Wurzel dieses Baumes. Polar aber wäre beim Baum ja immer auch die Tatsache, umlaufen werden zu können, was bei dem Olivenbaum die Symbolik einer zirkularen Kreisbewegung ins Spiel bringt. Wieso? Nun, mit jedem Zyklus geht einher ein Maximum und ein Minimum, sei es im Weltenplan der Jahreslauf der Sonne in ihrer Sommer- und Wintersonnenwende oder im Tageslauf durch Mittag und Mitternacht. Und da kommt bald zum Vorschein, dass für diesen Baum als Weltenachse ja Licht und Finsternis immer gleichzeitig gegenwärtig sind, wie auch auf der einen und der anderen Seite unseres Globus.

 

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Sterne die sich um den Polarstern drehen: Ein Bild für den kosmischen Tempel.

Im besagten Zyklus, den die Sonne in ihrem Jahres- und Tageslauf beschreibt, aber sind noch zwei weitere Stationen untergebracht, die sich beim irdischen Kreislauf ergeben mit der Dämmerung, dem Zwielicht, wo zum einen nicht mehr Tag, aber noch nicht Nacht und andererseits nicht mehr Nacht, aber noch nicht Tag ist – das sind die Abend- und die Morgendämmerung.

Dunkelheit, Dämmerung und Tageslicht

Halten wir aber einmal kurz inne und überlegen, vor dem Hintergrund des soeben Beschriebenen, was ein Licht sein könnte, das, wie wir im oben angeführten Koran-Zitat lesen können, weder »östlich noch westlich« ist. Denn wenn es beispielsweise nicht mehr darum geht, dass der Tag auf die Nacht folgt, oder die Nacht auf den Tag, begäben wir uns doch in eben jene Gleichzeitigkeit für die die besagten beiden Dämmerungen symbolisch stehen. Und dazu finden wir in den biblischen Psalmen (die ja auch zum Kanon der islamischen Tradition zählen) zwei interessante Verse:

Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

– Psalm 139:11f

Was bedeutet das? Dem scheinbaren Gegensatz von Licht und Finsternis, von »östlich und westlich« (also der Richtungen von Sonnenauf- und -untergang), lässt sich eine weitere Bedeutung zuweisen, die, wie wir oben sagten, einem Zwielicht gleichkommt, in dem sich unser irdischer Globus, aus himmlischer Perspektive betrachtet, ja andauernd befindet. Da drehen sich Tag und Nacht um den Polarstern. Er bildet die kosmische Mitte unseres Weltgeschehens, denn alles auf der Erde dreht sich geografisch unentwegt um die Polachse, die auf diesen Stern hin ausgerichtet, uns den Wechsel beschert, zwischen Dunkelheit, Dämmerung und Licht, zwischen der kalten, der gemäßigten und der warmen Jahreszeiten, die ja alle unseren Alltag ganz und gar bestimmen.

Aus dieser Erkenntnis kommen wir zu der Wahrheit, dass ein weder »östlich noch westlich«, im Symbol des besagten Olivenbaumes, auf einen geraden Weg hindeutet, von dem man nicht abkommt, sondern in dem kosmischen Kreislauf nach innen, zur Mitte gezogen wird – vom Außen der Welt ins Zentrum der eigenen Seelenmitte, dem Selbst.

Der göttliche Thronsitz im Herzen

So wie ein Mensch, der einen Berg besteigen will, dessen Gipfel doch auch zu einer Mitte hin erklimmt, erhebt sich für den Sufi der Sucher auf seinem Weg. Er führt ihn in sein Inneres, zur spirituellen Mitte seines Herzens.

So wie im Makrokosmos der Polarstern am Tag von der Sonne überstrahlt, wenn auch nicht sichtbar, aber dennoch sein Licht aussendet, so unsichtbar verborgen scheint auch aus der Innerlichkeit des Menschen ein mystisches Licht, verdeckt von den profanen Ereignissen der äußeren Welt.

So wie der Polarstern für den Wissenden den Angelpunkt allen Seins in der Außenwelt bildet, so die symbolische Wasseroberfläche des zuvor verwendeten Bildes vom Brunnen im tiefen Inneren seines Herzens.

Wer sich nun allmählich von seiner Identifikation mit seinem Körper und der Außenwelt zu lösen vermag, so die Sufis, und in seinem Inneren die ständige Gegenwart Gottes erfährt, wird nach einiger Zeit aus seinem Herz einen geistigen Thronsitz formen, worin ihm das Göttliche Allahs sein Wesen offenbart.

Dieser symbolische Thron im Innern des Wissenden, bildet die Verbindung zwischen seiner Seele und Gott, worin ihm die Geheimnisse des Heils und der Glückseligkeit erscheinen, als das Öl von dem »Olivenbaum, der weder östlich noch westlich ist«, von dem der Koran-Vers sagt, es leuchte »beinahe von selbst«. Ist die Lampe ein Symbol, wie wir sagten, von Qalb, dem spirituellen Herzen, ist das Öl dieser Lampe das durch das göttliche Licht geläuterte Blut, das durch die Adern des menschlichen Lichtkörpers ausströmt in sein Tun, sein Empfinden und sein Denken als »Erwachter«. Er hat in Qalb den Dreh- und Angelpunkt erkannt, um den sich alle Attribute des Göttlichen sammeln. Hieraus formt sich eben jenes metaphorische Lampenglas, der »spirituelle Kristall«, womit im inneren Licht von Qalb ein »funkelnder Stern« erscheint (Sure 24:35), um den sich alles dreht, weit jenseits allen Zwielichts.

Doch erst wenn ein Mensch gelernt hat alles was ihm widerfährt, sei es positiv oder negativ, gleichmütig anzunehmen, kann in ihm eine Leere entstehen, die sich weder den Ereignissen im Außen noch denen des Innern widersetzt, was ihm auch immer zustoßen mag. Im Gegenteil: So einer wurde zum Wissenden, wenn er erkannte, dass nur aus der Erfahrung des Kontrasts zum Guten, durch die Begegnung mit unseren Widersachern ein Erkennen der Wahrheit überhaupt erst möglich wird.

 

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