Früh morgens verließ ich Athen. Es war Mai und morgens noch nicht warm. An meinem Zielort erwartete ich entsprechend mäßige Temperaturen, denn ich fuhr auf 630 Meter Höhe: nach Delphi – zu einem der interessantesten Orte der westlichen Kultur.
Mit dem Mietwagen kommt man von Athen ganz bequem ins etwa 190 km nordwestlich gelegene Delphi, im Übrigen auch mit dem Reisebus. Da ich schon vormittags dort sein wollte nahm ich also den Bus um 8:30 Uhr, der in etwa drei Stunden dort hin fährt.
Meine Mitreisenden kamen von überall her und schienen ebenso gespannt wie ich, was wir dort wohl sehen und erfahren werden, an jenem sakralen Ort der Griechischen Antike. Das wir tatsächlich in ein Gebirge fahren, signalisierte mir auch mein Sitznachbar in seiner Bergmannsmontur, ein freundlicher Grieche mittleren Alters, der mich irgendwie an den Filmemacher Theo Angelopoulos erinnerte.
Ich genoss die Fahrt und als wir nach etwa anderthalb Stunden die Autobahn verließen und sich unser Bus nach und nach in die Gebirgsregion Mittelgriechenlands bewegte, da wechselten auch die Perspektiven. Die Hügel wurden zu Bergen, die Kurven der Straße zu Serpentinen und zusehends folgte unsere Fahrt schlängelnden Bewegungen.
Da kam mir unweigerlich die alte Legende von der riesigen Schlange Python in den Sinn, die sich hier am Berge Parnass womöglich einst auch um die Felsen wand, mit einem Auge die Eingänge ihrer sagenhaften Höhle im Blick, worin sie wohl ihr Gold hortete.
Der Berg Parnass: Wohnort der Nymphen
Vor sehr langer Zeit, so die Legende, in der Blütezeit der Menschheit, wo Kriege, Verbrechen und Laster noch unbekannt waren, weilte dort auf dem hohen Parnass im Frühling das lebendige Licht Gottes, dessen Strahlen dereinst den schönen Künsten ihren vollen Glanz verleihen sollten: Dieses Licht verkörperte Apollon – der leuchtende Sonnenkönig aus Hyperboräa. Er auch war es der die grässliche Schlange Python erschlug und damit eine neue Ära einleiten sollte.
Der Gipfel des Parnass aber war einst, zu Beginn des Eisernen Zeitalters, vor vielleicht 12000 Jahren, der Landeplatz eines besonderen Schiffes.
Wie aber soll das gehen? Ein Schiff auf 2455 Metern?
Nun, es ist eben ein Mythos. Doch der alte griechische Schriftsteller Apollodor von Athen schrieb davon ganz ausführlich, so als hätte sich das vor langer Zeit wirklich ereignet: Es kam auf der ganzen Erde zu einer Katastrophe ungeheuerlichen Ausmaßes. Alles versank während einer riesigen Überschwemmung. König Deukalion und seine Gattin Phyrra konnten sich noch in ein Schiff retten, auf dem sie dann über die Wassermassen dieser riesigen Sintflut hinweg fuhren, bis sie hier aufsetzten, zwischen den felsigen Zinnen des Parnass. So entstand auf diesem Berg eine neue Zivilisation – das zumindest schrieb Apollodor für seine Erzähler auf.
Am Fuße des Parnass musste sich das neue Menschengeschlecht von diesem Armageddon aber erst über viele Jahrhunderte hinweg regenerieren. Und da kam der Gott Apollon zu ihnen, als Spender von Licht und Heil. Jeden Frühling reiste er von jenseits des Nordwinds, vom mythischen Kontinent Hyperboräa, hier nach Delphi. Er kam um Kranke zu heilen und jungen Priesterinnen die Kunst der Weissagung zu lehren. So eine nannte man dann »Pythia«, in Anlehnung an den Namen ihrer Vorgängerin, der Python nämlich, die man in sehr alter Zeit dort anrief um die Botschaften der Stimmen aus der Zukunft zu vernehmen.
Doch nachdem Apollon das Ungeheuer getötet hatte, verweste der Kadaver des Ungetüms zwischen Felsspalten, wo ausgerechnet dereinst die heilige Tempelanlage Delphis erbaut werden sollte. Über tiefen Schächten stand der Dreifuß Pythias, wo sie berauscht von dem unter ihr aufsteigenden, geruchlosen Gas des wesenden Ungeheuers, ihre Orakel verkündete. So will es ein Mythos.
Delphi war trotz allem weit mehr als das. Schon immer war es auch ein Ort politischer Entscheidungen, an dem man aber ebenfalls Künstler und Musiker bejubelte. Das etwa belegt das große Amphitheater in einem der beiden dort befindlichen Tempel, das nachher auch als Parlament einen Zweck erfüllte. Was auch immer man dort sonst noch tat, sei der Fantasie überlassen.
Hier musizierte Apollon für die Menschen auf seiner viersaitigen Lyra, mit seinen singenden Mädchen, wo göttliche Harmonien erklangen. So erst fand das Wort Musik zu seiner Geltung, durch Apollons schöne Töchter – den Musen.
Apollon war der Sohn des Göttervaters Zeus, der einst zwei Adler entsandte: einen aus dem Westen und einen aus dem Osten. Sie trafen sich dann hier in Delphi, das damit zum Nabel der Welt wurde.
Um diesen wichtigen Punkt aber auch physisch zu markieren wurde hier der »Omphalos« platziert: der »Nabelstein«. Dieser Stein schmückte das Adyton, den allerheiligsten, verborgenen Raum des Orakel-Tempels zu Delphi.
Ein 6000 Jahre alter Pilgerweg
Auf der Fahrt dachte ich über all diese Einzelheiten nach. Doch auf einmal wurde ich aus meinem Wachtrum entrissen. Unvermittelt verringerte der Bus sein Tempo. Doch wir Passagiere wunderten uns nur kurz. Wir machten einfach nur Halt an einer dieser schönen griechischen Raststätten, wo es immer all die vielen Süßigkeiten gibt, auch wenn ich selbst kein Zuckeresser bin. Gegen einen weiteren Kaffee aber war nichts einzuwenden. Damit setzte ich mich nach draußen zu den anderen, unter eine große Platane.
Mein Sitznachbar, mit dem ich bisher noch kaum gesprochen hatte, saß unweit von mir. Wir stellten uns vor und kamen ins Gespräch. Marios war Athener und ein begeisterter Wanderer und Skifahrer, wie ich erfuhr.
In unserem Gespräch erzählte er von einem eigentümlichen Ort, von dem ich nur beiläufig gehört hatte: der Korykischen Höhle. Marios versicherte mir, mit einem leichten Schmunzeln, dass er dorthin jeden Frühling wandere zur »Wallfahrt«. Etwa drei Stunden dauert der Aufstieg von der Kleinstadt Arachova, die auf 960 Metern Höhe gelegenen, sich etwa zehn Kilometer östlich von Delphi befindet. Von Arachova aber fahre auch ein Bus in die Richtung der Höhle, so dass man sich den größten Teil des Aufstiegs ersparen kann und der Weg von der Haltestelle »nur« anderthalb Stunden entfernt ist, wie mich Marions wissen ließ.
Er aber besteht auf den Fußweg, zumal das die einzige Möglichkeit ist in den vollen Genuss der sagenhaften Aussichten zu kommen, blickt man von der Südseite des Parnass doch auf den Golf von Korinth, bis auf die Zinnen der hohen Zweitausender der Gebirgslandschaft der Peleponnes. Er versicherte mir das selbst Pausanias (115-180 n. Chr.), der alte griechische Reiseschriftsteller, diesen Ort als höchst sehenswert empfahl.
Er meinte das es ihm darum jedesmal von Neuem ein Vergnügen sei, von Arachova aus zur Korykischen Höhle auf 1360 Metern zu steigen (von Delphi aus braucht man etwa anderthalb Stunden länger). Marios wollte, wie er meinte, sich hineinversetzen in diese alte Zeit, wo schon vor 6000 Jahren Menschen wanderten, um die sagenhafte Kraft dieses magischen Berges auch wirklich zu erfahren.
Diese Grotte soll einst bewohnt gewesen sein, der Legende nach zuerst von der Nymphe Korykia, einer Gefährtin des Apollon, nach der die Höhle benannt werden sollte. Von dort aus wachte die Nymphe über die Kastalische Quelle Delphis, zwischen den beiden großen Felsen, den Phädriaden.
Mir schien als hätte sich Marios‘ Ausstrahlung verändert, als er mir das alles erzählte. Da fragte ich ihn ob er sich auch mit Geomantie beschäftigen würde und hatte das Ja erwartet, dass ich auch prompt von ihm bekam. Er erzählte mir dass an solchen Orten besondere terrestrische Kraftlinien verlaufen, deren Energie sich direkt wahrnehmen lasse. Sofort musste ich an die Berichte denken, die ich mal über den sogenannten »Tempelschlaf« laß, wo doch schon in alter Zeit Menschen heilige Orte aufsuchten, um dort in Träumen Antworten zu finden auf zentrale Lebensfragen. Als ich Marios darüber erzählte lächelte er und sagte:
Genau das ist der Grund wieso ich mich dorthin auf den Weg mache.
Die Gipfel des Parnass
Im Vorübergehen bat uns der Busfahrer freundlich auf unsere Plätze zurückzukehren. Etwa eine Stunde später sollten wir in Delphi sein. Die Fahrt ging also weiter und als wir etwa zwanzig Minuten später vor uns die Höhen des Parnass aufragen sahen, schien sich der Stimmenpegel im Bus zu heben. Einige deuteten staunend auf die teils schneeweißen Gipfelscharten des Berges und begannen Fotos zu schießen.
Wahrscheinlich hörte man ähnliches Gemunkel, wäre man einer der hellenischen Pilger gewesen, die sich schon vor tausenden Jahren hier, nach wohl tagelanger Wanderung, in diesen Gebirgslichtungen trafen und ehrfürchtig staunten, über ein vielleicht ähnliches Panorama.
Auf der Weiterfahrt nach Delphi setzten Marios und ich unsere Unterhaltung fort. Wir sprachen über den Mythos des Ortes und wie sich aus der Entwicklung seiner eigentümlichen Tempelbauten damals, gewisse Parallelen zur heutigen Welt ziehen lassen. Jede Kultur entwickelt sich immer wieder so weit, bis sie einen gewissen Gipfel erreicht, meinte Marios, um schließlich von einer neuen und jüngeren Kultur verdrängt oder schlicht aufgegeben zu werden. Was aber immer bleibt wären jene Formen die den Menschen zu allen Zeiten gut tun. Doch sie müsse man erst erkennen und interpretieren lernen. Das solcher Art Anstrengungen de facto auch unternommen wurden, dass steht für Delphi jedoch fest, auch wenn es heute nur noch für ganz wenige auch ein religiöser Pilgerort ist.
Etwa zehn Kilometer vor Delphi erreichten wir Arachova, von wo aus im Winter sich Skifahrer auf die Pisten des Parnass begeben. Der Bus machte hier kurz Halt und Marios verabschiedete sich von mir. Als ich ihn da so vor mir in seiner vollen Trekking-Montur sah, wusste ich, dass er sich sogleich auf den Weg machen würde zu jener Nymphenhöhle.
Drache, Mond und Erde
Jahrtausende lang huldigte man in den namhaften Kultstätten Europas Schlangen- und Drachengottheiten. Darum erbaute man auch an solchen Kultstätten wie Delphi einst chtonischen Göttern Heiligtümer. Das waren der Erde zugehörige, mächtige Wesen, über die die große Mutter Gaia herrschte. Ihr Sohn war Typhon, der mit seinen zahlreichen Drachenköpfen sich aus einer tiefen Höhle in Kleinasien erhob, die ausgerechnet den selben Namen trägt, wie eben jene Korykische Höhle am Parnass. Ein Zufall?
Zumindest scheint es mit Typhon eine klare Parallele zu geben zu jener reptilischen Gottheit Python, der man vor dem Erscheinen Apollons in Delphi huldigte. Sieht man sich die Buchstaben dieser beiden Namen an, kommt einem wohl unweigerlich der Gedanke, dass es sich hier um Synonyme handelt.
Als jedenfalls später der Apollon-Tempel in Delphi errichtet wurde, schien man sich zu Ehren Gaias daran erinnern zu wollen, befinden sich hier doch zwei um einander windende, zu einer hohen Säule verbundene, ehern-bronzene Schlangen, denen jedoch einst die Häupter abgeschlagen wurden.
Ähnliche Standbilder finden sich auf dem gesamten Gebiet des antiken Griechenland von Süd-Anatolien (dort in Tarsus), über Byzanz (Istanbul), bis nach Mittelgriechenland und auf den Ionischen Inseln. Dort eben herrschte einst ein Kult der großen Muttergottheit und ihren reptilischen Nachkommen.
Wohl darum finden wir in Delphi zwei Tempel: einen älteren und einen neueren, wobei ersterer der Athena Pronoia gewidmet war und letzterer eben dem Drachentöter Apollon.
Der Tempel der Athena Pronoia aber wurde über noch viel älteren Bauwerken errichtet, wo sich zuerst ein Kultort zu Ehren Gaias befand. Später erbaute man hier der Mondkönigin Artemis (Apollons Zwillingsschwester) ein Heiligtum, bis dort schließlich die vermännlichte Athena ihren Platz bekam – Göttin der Weisheit im patriarchal geprägten Griechenland und Namensgeberin der Stadt Athen.
Eindeutig Zweideutig
Jahrhunderte lang besuchten Könige und Diplomaten, Philosophen und auch gewöhnliche Leute das Orakel von Delphi. Unter ihnen befanden sich auch so sagenhafte Gestalten wie der reiche König Krösus oder Alexander der Große. Sie und viele andere suchten dort Rat, nach Antworten auf ihre brennendsten Fragen und nach deutlichen Zeichen, die sie zu richtigen Entscheidungen führen sollten.
Zu jenen Fragen die der Orakel-Priesterin Pythia gestellt wurden, gehörten persönliche Anliegen ebenso wie politische Fragestellungen, wo letztere aber zu Entscheidungen führen sollten, die manchmal gar das Bestehen oder den Untergang eines ganzen Volkes betrafen.
Anfänglich durfte das Orakel nur an einem Tag im Jahr angerufen werden. Und das war der Geburtstag des Lichtgottes, um die Zeit der Frühlings-Tagundnachtgleiche, wo ja das Licht wieder der Dunkelheit zu überwiegen beginnt und Apollon eben zurückkehrt, um den Menschen wieder mehr Licht, Gesundheit und Wohlbefinden zu schenken.
Aus dieser Zunahme des Sonnenlichts im Frühling, gewann auch die Priesterin Pythia ihre Kraft, um das verborgene Weistum der Unterwelt an die Erdoberfläche zu Tage zu befördern. Doch eben so wie sie damit zwischen der Lichtwelt Apollons und der Unterwelt Pythons stand, so zweideutig waren auch ihre Orakelsprüche.
Das erfahren wir etwa von dem griechischen Historiker Herodot, wie einst die Antwort des Orakels zum Untergang eines Reiches führen sollte, da sein König die eigentliche Warnung der Pythia, als Ansporn missverstanden hatte. Und dieser Fürst hieß Krösus – der reiche König von Lydien (Westen Kleinasiens).
Krösus hatte aber einen Feind. Der Perserkönig Kyros bedrängte ihn von Osten her mit seiner Streitmacht. Durch eine List gelang ihm auch an das Geld des Krösus zu kommen, worauf dieser auf Rache sann und zu einem Feldzug gegen die Perser rüstete. Doch bevor er seine Offensive startete befragte er das Orakel von Delphi, um zu erfahren was geschehe, wenn er in das Reich des Kyros mit seiner Armee eindringt. Pythia sprach:
Wenn du den Fluss Halys (heute: Kizilirmak) überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.
Krösus jedoch ahnte nicht: es war sein eigenes Reich, denn Kyros sollte ihn besiegen.
Ganz gleich welcher Art Orakel man befragt, um über den zukünftigen Ausgang einer Sache zu erfahren, sollte man stets auf der Hut sein vor vermeintlich gut aussehenden und günstig klingenden Berufungen. Sie können uns offenbar auch irreführen, doch damit einen ganz und gar unerwarteten Zweck erfüllen. Doch sicher ergäbe auch dass dann seinen Sinn.
Die berühmte Inschrift am Delphischen Orakel-Tempel
Mein Bus erreichte nach fast genau drei Stunden den kleinen Ort Delphi. Von dort nahm ich ein Taxi in das nahe gelegene Hotel, wo ich dann drei Tage verbringen wollte.
Als ich dort ankam, hieß mich ein freundlicher Portier willkommen, der sich mir vorstellte als Panaiotis. Gleich dachte ich an die Avant-Garde-Musik der amerikanischen »Deep Listening Band«, deren eines Mitglied auch Panaiotis heißt.
Wirklich atemberaubend war der Blick den ich von meinem sonnenbeleuchteten Balkon aus hatte. Ich schaute von dort auf den Golf von Korinth und die teils noch schneebedeckten Gipfel, der jenseits davon liegenden Berge des Peleponnes.
Bei Sonnenuntergang suchte ich gleich nach einem passenden Titel der eben erwähnten Musikgruppe. Ihre sphärischen Kompositionen genießend, sah ich dann von meinem schönen Balkon aus, wie von Süd-Osten her das Licht der rötlichen Strahlen des Sonnenuntergangs, die riesigen Täler vor mir in eine wundervolle Abendstimmung tauchte.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um die aufgehende Sonne zu begrüßen.
Die Gebirgsvorläufer vor mir umwuchsen riesige Haine von wahrscheinlich mehr als tausend Oliven, einem ganzen Wald von Ölbäumen der sich erstreckte bis an die Küste der Bucht von Itea, wo sich, wie ich später herausfand, eine kleine Fischergemeinde befand.
Bei diesen wundervollen Eindrücken erinnerte ich mich an einen Spruch:
Ein Suchender schaut morgens aufmerksam gen Osten, der aufgehenden Sonne entgegen und empfindet dabei vielleicht in Ehrfurcht verzückt, ein kosmisches Liebesgefühl, dass ihm signalisiert: Folge Deinem Herzen.
Und was ist das Herz? Ist es nicht jene Stelle in uns, wo die Essenz unseres Selbst zu liegen scheint?
Zumindest ist das Herz jener Kraftpol in uns, der, ganz gleich woran wir denken, uns losgelöst von Allem, von unserer Mitte her mit Lebenskraft und Wärme versorgt. Dabei bilden Atem und Herzschlag in ihren sich überlagernden Schwingungen eine Allegorie auf eben das, was uns die Sonne jeden Tag aufs Neue mit ihrem Licht, ihrer Wärme und als aufsteigender Himmelspol beibringt: das nämlich alles einem stetigen Wandel unterliegt – auch unser lebendiges Selbst.
Was dort oben am Himmel uns täglich leben lässt, ist sinnbildhaft auch in uns. Sonne und Herz sind die Zentren unseres Selbst – im Außen und Großen, wie im Innern und Kleinen.
Was aber meinte der griechische Weise Chilon von Sparta, wenn er einst sagte: Gnothi seauton – »Erkenne Dich selbst«? Dieser berühmte, so häufig zitierte Spruch stand nämlich einst am Eingang des delphischen Apollon-Tempels.
Dieser Satz dürfte den meisten wohl fast schon abgenutzt erscheinen, da er schon so oft irgendwo zu lesen war oder ihn jemand zitierte. Seine wahre Bedeutung aber scheint man dabei nur all zu leicht zu übersehen. Denn nicht zufällig wurde er im Westen zu dem wahrscheinlich berühmtesten Wahrspruch aller Zeiten, der sich uns mehr als 2500 Jahre erhalten hat.
Auch wenn wir ihn schon hundertmal gehört haben, lohnt es sich doch immer wieder einige Augenblicke darüber nachzufühlen, was er in uns an Bedeutungen aufsteigen lässt. Jetzt.
Die Frage nach dem Weg
Imposant ragten die verbliebenen dorischen Säulen der alten Ringhalle vor mir auf, als ich schließlich den Apollon-Tempel morgens früh, als erster Besucher betrat. Hier also befand sich einst das große Bauwerk, worin in einem besonderen Raum die Pythia auf ihrem hohen Dreifuß sitzend wahrsagte, über der schwärenden Spalte sitzend, in die Apollon die vermeintlich getötete Schlange Python hinabstieß.
Dort saß sie in Dunkelheit, vielleicht umgeben vom Schein einiger Öllichter, als man den Frager vor sie führte, damit er sich befreie aus vermeintlich unbeantworteter Ahnungslosigkeit. Darüber sann ich nach, als ich langsam über die Heilige Straße des Tempelbezirks schritt, vorbei am alten Schatzhaus der Athener, hinauf zum großen Amphitheater.
Auch ich und wahrscheinlich auch Sie, die gerade diesen Text lesen, haben viele unbeantwortete Fragen. Woher aber kommen all unsere Fragen eigentlich? Wieso stellen wir sie uns?
Schon immer wohl haben Menschen das Bedürfnis verspürt nach etwas Größerem zu streben. Wir sind mit dem was wir haben vielleicht schon viel zu lange zufrieden, oder sogar bereits unzufrieden. Nagen tun Fragen auch den, der schon viel erreicht hat, denn er glaubt kaum noch mehr erreichen zu können.
Alexander der Große besuchte das Delphische Orakel im Jahr 336 v. Chr. und wollte von der Pythia hören, dass er bald die ganze Welt erobern würde. Doch zu seinem Erstaunen verwehrte ihm das Orakel eine Prophezeiung und bat ihn wieder zu kommen. In Raserei empört zog er Pythia an ihren Haaren, bis sie schrie:
Du bist unbesiegbar mein Sohn!
Als er das hörte ließ er sie los und sagte:
Jetzt habe ich meine Antwort.
13 Jahre später hatte Alexander der Große die ganze damalige Welt erobert. Doch da brach er in Tränen aus, da für ihn nichts mehr zu erobern blieb. Nicht lange danach wurde er krank und starb, als er nicht einmal sein 33. Lebensjahr vollendet hatte.
Wer hat ein Ziel?
Als Mensch kann man sich zwar auf die Suche begeben und dabei ein besonderes Ziel anstreben, doch man kommt im Grunde niemals an. Wer sucht eröffnet neue Fragen. Ist es darum überhaupt wichtig ein Ziel zu haben?
Und ob! Auch wenn die Pythia nur einmal im Jahr weissagte, fanden bei Ihr Antwort doch nur jene, die einen Vorsatz hatten und einen Zweck erfüllen wollten.
Nur wer Ziele hat bewegt sich, bleiben dem Ziellosen doch alle Möglichkeiten offen. Und das lässt ihn nur erstarren, da er nicht weiß wohin er sich wenden soll. Ziellos mit gebeugtem Haupt passieren sie uns, all die vielen Menschen heute, auf etwas Leuchtendes blickend, woraus sich schier unendlich viele Ziele aufrufen lassen. Doch was davon ist wichtig und was ist richtig?
Die Freiheit der Wahl ist bedeutungslos wenn wir keine Ziele haben. Haben wir ein Ziel gefunden liegt dessen Erreichen aber allein im Antreten und dem Zusteuern darauf. Denn etwas zu erreichen ist eine einmalige Sache, die sich zum ersten Mal, nur einmal erreichen lässt. Alle weiteren Male sind Wiederholungen und werden darum irgendwann zum Trott.
Wahre Ziele zu erreichen heißt darum auch mit etwas Altem abzuschließen. Und wer eine neue Reise antreten will der braucht, wie könnte es anders sein, ein neues Ziel.