Mitten im zentral gelegenen Hochland von Anatolien befindet sich auf tausend Metern Höhe die Stadt Konya. Hier lebte im 13. Jahrhundert der große Mystiker und persische Dichter Dschallaledin Rumi. Wer ihn kennt der kennt auch die Drehenden Derwische in ihren weißen Gewändern, mit ihren hohen braunen Filzhüten. Schon lange tanzen sie da in Konya, in dieser Stadt inmitten der größten Steppe der Türkei.
Besucht man Konya mit dem Auto, dem Bus oder dem Zug, fährt man, ganz gleich aus welcher Richtung, eine ganze Weile durchs Nirgendwo, bevor man die Stadt erreicht. Weit und breit, so scheint’s, gibt’s nichts als trockene Erde, aus der sich, über ganz lang gezogene Hänge, weit gestreckte kahle Hügel erheben. Eine imposante Gegend, deren Böden sich in verschiedenen Farben zeigen.
Ich selbst fuhr mit dem Zug nach Konya. Meine Reise begann früh morgens in Yenice, einer kleinen Stadt in der Nähe von Tarsus. Von dort ging die Fahrt zuerst durch das schöne Taurus-Gebirge, von dem manche glauben, dass dort einst wilde Stiere lebten.
Das Herz der Seidenstraße
Konya ist schon sehr lange ein bedeutender Ort auf der Landkarte. Als sich einst die Karawanen entlang der Seidenstraße durch Anatolien bewegten, rasteten sie in Konya und trieben Handel dort. Im 13. Jahrhundert war es die Hauptstadt des Sultanats der Rum-Seldschuken. Schon sehr viel früher aber war dieser Ort besiedelt, wieso Konya sogar zu den ältesten Städten der Welt zählt. Hier nämlich leben Menschen seit bereits 6000 Jahren.
Das diese Region schon sehr früh bewohnt war zeigt auch das etwa vierzig Kilometer südöstlich der Stadt gelegene Çatalhöyük (gesprochen: »Tschatalhöyük«), jene sogenannte »Hügelgabelung«, in der Ende der 1950er Jahre Prähistoriker eine alte Siedlung aus der Jungsteinzeit entdeckten. Von allen heute durch Archäologen gefundenen Siedlungen, ist Çatalhöyük, mit seinen mehr als 9000 Jahre alten Gebäuderuinen, die älteste Siedlung der Welt. Die religiösen Kulte dieser Menschen reichen damit zurück bis in die Zeit des alten Matriarchats, dass in dieser Region noch Tausende Jahre lang bestehen sollte.
Im 8. Jahrhundert v. Chr. dann siedelte in dieser Region das indogermanische Volk der Phryger. Ihre zentrale Gottheit war Kybele, die »Magna Mater«, die Große Muttergöttin. Letzte Stadt des alten Reichs der Phryger war Ikonion. Konya aber ist die jüngere Form dieses griechischen Namens.
Der Name Ikonion aber geht zurück auf das alt-griechische Wort »Eikon«, die Ikone. Und eine Ikone ist das Kultbild einer heiligen Person, die in diesem Falle da wohl irgendwo das Haupt der Medusa zeigte. Wer aber war die Medusa?
Vor der olympischen Zeit Alt-Griechenlands, das sich ja einst westlich und östlich der Ägäis befand, verkörperte das wunderschöne Mädchen Medusa die Göttin der Weisheit. Sie aber war auch eine Göttin der Unterwelt und ihr Haupt war den Jüngern des mythischen Dichters Orpheus heilig. Im Vollmond verehrten sie die Medusa, da sich ihm das Licht aus der Unterwelt spiegelt, durch die sich die ja »nächtliche Sonne« bewegt. Medusa aber bewachte das Reich der Gattin des Hades, Persephone, jenen Ort an den sich die Seelen der Verstorbenen, doch auch jener hinbegeben, die vom Tod schon kosten durften, um schließlich als Eingeweihte fortzuleben.
In olympischer Zeit dann aber sollte der griechische Held Perseus das Leben der Medusa beenden, denn ihr Blick war tödlich und wer ihr in die Augen sah, erstarrte zu Stein. Perseus hatte ihr darum »den Spiegel vorgehalten« worin sie sich selbst erblickte und erstarrte. Die olympische Weisheitsgöttin Athene aber beneidete Medusa um ihre Weisheit und jener Spiegel des Perseus war eigentlich das Schutzschild der Athene.
Die psychologische Deutung des Medusa-Mythos ist wohl ein Hinweis darauf, dass die Weisheit über den reinen Intellekt siegt. Sie lässt ihn erschaudern und bringt die Münder der Intellektuellen zum Schweigen. Medusas Blick lässt erstarren, wenn auch nur die Lippen.
Die Weisheit der Sufis und Derwische
Die Hochebene Konyas war immer schon ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und der Begegnungen. Ob Menschen aus dem Osten kamen oder aus dem Westen: Wer durch Zentralanatolien reiste, kam auch durch Konya. Manche waren nur Besucher, andere blieben dort. Und das sieht man den Menschen auch heute noch an, denn man begegnet dort einer Vielzahl verschiedener Ethnien und Menschentypen. Manche sind Nachfahren von Griechen, andere haben arabische Vorfahren. Menschen mit blauen Augen trifft man da, wie ebenso welche mit asiatischen Zügen.
Die alten Verwandten der Menschen dieser Stadt scheinen von überall her gekommen zu sein. Unter ihnen war auch jener Derwisch den man den Griechen nannte, auf türkisch »Rum«. Daher sein Name Rumi. In der Türkei ist aber die Rede von »unserem Meister«: Mevlana – einem Menschen der wahrliche Meisterschaft über sein Leben errungen hat, ein Adept, würde man vielleicht auch sagen.
Ursprünglich aber stammte Dschalaladdin Rumi aus dem alten Land von Chorasan, das sich damals weit erstreckte über die Grenzen des heutigen Iran, Afghanistans und Turkmenistans. In Balch, der »Stadt des Goldenen Pferdes«, erblickte der kleine Dschalaladdin im Jahre 1207 das Licht der Welt.
Als er zwölf Jahre alt war musste er mit seinen Eltern fluchtartig Balch verlassen, denn aus dem Osten kamen die gefürchteten Reiterheere Dschingis Khans immer näher. Auf ihrer Reise trafen sie in Nischapur (Stadt im Iran) den Sufi-Heiligen Fariduddin Attar, der schon damals die Größe Rumis erkannte. Attar war der Verfasser eines berühmten Buches mit dem Titel »Das Parlament der Vögel«. Er schildert darin die ungewöhnliche Reise eines Vogelschwarmes, angeführt von einem Wiedehopf. Die Vögel bewegten sich durch die »sieben Täler der Liebe«, auf der Suche nach dem Göttervogel Simourgh.
Für den jungen Dschalaladdin sollte die Begegnung mit Attar von großer Bedeutung sein, der, wenn man so will, ganz und gar das spätere Schaffen des Dichters Rumi inspirieren sollte.
Auf dieser gefährlichen Reise aber verlor der junge Dschalaladdin seine Mutter und seinen Bruder. Er und sein Vater Bahaudin kamen nach Konya im Jahre 1228. Er sollte dort der Leiter einer großen Schule werden. Später erbte Rumi von ihm diese ehrenhafte Aufgabe.
Im alten Persien waren die Sufis meist große Gelehrte. Möglicherweise bereits vor der Islamisierung bewegten sie sich als Botschafter eines neuen Geisteslebens zwischen den Städten des mittleren Orients, lehrten später an den Universitäten und den Höfen der Herrscher und Sultane. Sie waren Männer und Frauen die von Mund zu Ohr die alten Weisheiten aus Ost und West bewahrten.
Der sonderbare Mann im Secondhand-Laden
Etwa sieben Stunden verbrachte ich im Zug und staunte, wie sich die Ausblicke immer wieder wandelten. Es war eine wahrlich inspirierende Fahrt nach Konya, durch verschiedene Vegetationszonen. Als ich dann am Nachmittag ankam fuhr ich vom Bahnhof mit dem Taxi in mein Hotel in der Altstadt von Konya.
Unzählige sehenswerte Orte gibt es in der Stadt. Den Besuch des Mausoleums Rumis legte ich auf den kommenden Morgen.
Seit Rumis Lebzeiten ist das Mevlana-Museum Konyas, worin sich das Mausoleum Rumis befindet, wie auch die Loge der Mevlevi-Derwische, ein wichtiger islamischer Wallfahrtsort der Türkei. Zu Zeiten des Osmanischen Reichs fügte man diesem Bau darum weitere Gebäude hinzu und setzte ältere in Stand. Den Vorhof zu diesem Bau umsäumen 18 Klausen, worin einst die Derwische des Ordens lebten. In diesen Räumen findet man heute gut illustriert und Beschrieben, wichtige Exponate aus der Frühzeit des Mevlevi-Ordens.
Den gesamten Gebäudekomplex nennt man Tekke (auch: Dargah, »der Rückzugsort«). Hier fanden die Dhikr-Zeremonien der Mevlevi-Derwische statt, wo man gemeinsam im Kreise repetitiv die Heiligen Namen Allahs rezitiert. Der Hauptraum einer Tekke wird darum Dhikrhane oder auch Semahane genannt. In letzterer Beititelung klingt das Wort »Sema« an, das für den typischen Drehtanz der Mevlevi-Derwische steht, in dem sie durch kreisende Bewegungen in Ekstase geraten und dabei, himmlische Segnungen empfangend, diese an die zuschauenden Anwesenden übertragen. Doch das ist die eher oberflächliche Betrachtung dessen, was während dieser Zeremonie sonst noch alles stattfindet.
Nachdem ich mir jedenfalls dort in der Tekke der Mevlevis alles angesehen hatte, wollte ich noch zur Ince-Minareli-Medrese, einer alten Schule hinter dem Alaadin-Hügel-Park. Vom Mevlana Mausoleum läuft man dort in etwa zwanzig Minuten hin. Das Portal dieses Gebäudes nämlich gehört zu den schönsten Toren die ich je sehen sollte.
Bevor ich aber dorthin laufen wollte, holte ich mir in einer der Bäckereien noch ein Simit, diese typischen türkischen Hefeteigringe mit Sesam. Den Bäcker aber fragte ich ob man hier in der Nähe auch mal ins Gespräch kommen könne mit einem richtigen Derwisch, in der Hoffnung das er vielleicht selbst einer wäre. Da deutete er in Richtung Selimiye-Moschee. Dahinter befände sich ein Secondhand-Laden, wo ein redseliger Mann gerne über die Derwische erzähle. Einer der Lehrlinge des Bäckers, der mir gerade mein Simit eintütete, warf seinem Meister einen heimlichen Blick zu, so als wüsste der genau, was er mir da in Wirklichkeit gerade empfohlen hatte. Das aber machte mich nur neugieriger.
In einem kleinen Gässchen, nicht all zu weit von dem Mausoleum Rumis entfernt, befand sich ein außergewöhnliches Geschäft mit allerlei kleinen Gegenständen. Jesusstatuen befanden sich dort neben kleinen Buddhas, kleine Koranbüchlein standen in einem alten hölzernen, verglasten Schrank wo man auch Ney-Flöten liegen sah, Rosenkränze in allen Farben und Formen, Bilder Rumis und anderer Sufis und kleine weiße Plastik-Derwische.
Der Mann der dort arbeitete begrüßte mich freundlich als er mich sah und fragte wie er mir weiterhelfen könne.
Als ich ihn auf Sufismus und Esoterik ansprach, schien mir als hätte er nun ein »Opfer« gefunden. Er hielt mir gleich die Hand hin, stellte sich mir vor als Aslan (der türkische Name bedeutet wörtlich: »Löwe«), fragte mich nach meinem Namen und bat mich an einem winzigen, vollgekramten Tisch, mitten zwischen Bücheregalen in der Ecke des Raumes Platz zu nehmen. Um den Tisch standen drei hölzerne Stühle mit bunten Kissen und ein Sessel.
Schon stand da ein Glas mit Tee vor mir. Er warf mir einfach drei Zuckerwürfel rein, nahm seine Ney-Flöte und begann darauf sogleich mit pathetischer Gebärde eine Melodie zu blasen. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber die Situation war mir irgendwie peinlich. Dennoch fragte ich ihn nach seiner kurzen Einlage über die Bedeutung des Instruments. Aslan versicherte mir zuerst, dass er selbst kein Sufi wäre, sich aber trotzdem für Sufismus und Derwischtum interessiere. Dann setzte er sich mir gegenüber, blickte mich mit seinen großen Kulleraugen an und erzählte weiter:
Die Rohrflöte ist wie ein Mensch.
Dann machte er eine etwas längere Pause, wahrscheinlich um den Moment abzupassen bis ich stutzig wurde. Dann setzte er an zu seinem eigentlichen Vortrag:
Nur der Mensch wurde in Gottes Angesicht geschaffen. Gott gab dem Menschen eine Seele, damit er etwas von ihm habe, das gleich mit ihm ist. Damit hat der Mensch etwas, das nicht von dieser Welt ist, jedoch übernatürlich und göttlich.
Diese Geistseele formt das wahre Selbst eines Menschen. Doch sie kam in diese Welt aus anderen Welten, jenseits allen irdischen Daseins.
Nun senkte Aslan seine Stimme und neigte sich etwas zu mir vor, so als ob er wolle dass ich ihn besser verstehen kann:
Manche sagen die Seelen käme vom Stern Sirius auf die Erde, zumindest wird so etwas Ähnliches in der 53. Koran-Sure »Der Stern« angedeutet. Und jene Seele bekleidet sich dann mit der Erscheinung eines menschlichen Körpers.
Moschee und Tekke der Bruderschaft der Mevlevi-Derwische in Konya. Über dem Mausoleum Rumis erhebt sich die türkisfarben gekachelte Kuppel – heutiges Wahrzeichen der Stadt Konya.
Danach setzte er sich in seinen mit Wolldecken eingemummelten Sessel, lehnte sich zurück und nahm sein kleines Glas Tee in die Hand führte es bedächtig an seine Lippen, blies kurz darüber, um dann einen Schluck daraus zu nehmen. Er schaute mich dabei an, so als erwartete er von mir eine Frage.
Ich fragte mich, ob er das jetzt nur mir erzählte oder ob er bereits so eine Art Programm einstudiert hatte. Dennoch aber fand ich interessant was er da sprach, war es doch etwas worüber ich auch schon las.
Doch da sich diese Geistseele auf der Erde eigentlich an einem fremden Ort aufhält, sehnt sie sich nach ihrer wahren Heimat
meinte Aslan und fügte mit besonderer Betonung hinzu, dass ein Mensch, der noch nicht aus seinem Alltagsschlaf erwacht sei, sich noch mit seinem Körper identifiziere und darum der manifesten Welt um ihn herum anhafte.
Wenn sich nun aber so einer danach sehnt weltliche Güter zu besitzen, eine besondere Stellung in der Gesellschaft zu haben, Ansehen, Ruhm und Macht zu genießen, wird er dennoch eines Tages merken, dass das wonach er sich sehnt nichts Weltliches kompensieren kann. Dann aber beginnt ihn das Geistselbst so fest zu umschlingen, dass er unweigerlich zu jammern beginnt. Und für diese Traurigkeit steht bei den Mevlana-Derwischen der wimmernde Klang der Rohrflöte.
Aslan lehnte sich wieder zurück, griff nach seiner Rohrflöte und spielte mir darauf noch eine dieser durch und durch melancholischen Melodien vor.
Dann erzählte er mir, dass das Schneiden der Röhrichts aus dem Schilfmeer dem gleiche, was mit der Seele passiert, wenn sie ihren eigentlichen Ursprung im Meer des Göttlichen verlässt.
Denn so wie das Schilfbett die Heimat für das Rohr der Flöte bildet, so ist der Himmel die Heimat der menschlichen Seele.
Wenn nun der Derwisch auf der Ney-Flöte spielt, kommt das dabei zum Ausdruck. Das Innere des Rohrs ist eigentlich leer. Nur der Atem der dort hindurchgeht, da hineingeblasen wird, lässt den so charakteristischen Klang der Rohrflöte erklingen und erwckt sie damit quasi zum Leben. Und während man an der einen Öffnung der Rohrflöte die hauchende Klage vernehmen kann, bildet die andere Öffnung das Mundstück an den Lippen des Flötenspielers. Wäre dieser aber ein Sufi der eingeweiht ist in das Mysterium von Leben und Sterben, der wüsste um den Grund dieser Trennung der Seele aus dem Göttlichen und fände damit auch den Weg zur Rückkehr in seine wahre Heimat. Spielte so einer auf der Ney, so ertönte daraus wohl der Klang Gottes.
Aslan blickte mich mit seinen leuchtenden Augen eindringlich an, womit er mich etwas verunsicherte. Doch dann stand er auf und hob den Zeigefinger, um anzudeuten dass er da etwas habe, was Rumi dazu schrieb. Aus Mitten eines riesigen Stapels Papier zog er ein einzelnes Blatt, von dem er mir aus einem Gedicht Rumis vorlas.
Hör auf der Flöte Rohr – wie es erzählt, und wie es klagt
Vom Trennungsschmerz gequält:
Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt,
Weint alle Welt bei meinen Tönen mit.
Ich suche ein Herz, vom Trennungsleid zerschlagen,
Um von der Trennung Leiden ihm zu sagen.
Sehnt doch nach dem in Einheit Lebensglück
Wer fern vom Ursprung, immer sich zurück.
Ich klagt’ vor jeder Gruppe in der Welt,
Ward Guten bald und Schlechten bald gesellt.
Ein jeder dünkte sich mein Freund zu sein,
Sucht mein Geheimnis nicht im Herzen mein.
Und doch, so fern ist’s meiner Klage nicht,
Dem Ohr und Auge fehlet nur das Licht.
So sind auch Leib und Geist einander klar.
Doch welchem Auge stellt der Geist sich dar?
– Aus dem Lied der Rohrflöte von Dschalaleddin Rumi (die hier verwendete Übersetzung aber stammt von Annemarie Schimmel)
Symbole von Leben und Sterben
Alles was die Derwische in ihrem besonderen Ritus tun, sagte Aslan, sei genau strukturiert. Jeder Teil ihrer Kleidung, der Gewänder und der besondere Filzhut ist alles von esoterischer Bedeutung. Es sind Symbole für das menschliche Sterben – für aber ein Sterben vor dem eigentlichen Sterben!
Natürlich liegt in den Bewegungen der Mevlevi-Derwische ein tieferes Geheimnis. Die nach oben geöffnete Hand empfängt die himmlischen Einflüsse und die nach unten weisende, sendet diese Segnungen an die Anwesenden. Der schwarze Umhang aber ist das Leichentuch des Ego, der Filzhut ist sein Grabstein.
In dieser Symbolik erkennt einer unweigerlich den initiatorischen Charakter der den Ritus der Mevlevi-Derwische unter allen Sufi-Orden einzigartig macht.
War Goethe ein Derwisch?
Abends las ich noch über islamische Mystik im Internet und fand dabei zu Johann Wolfgang von Goethe. In seiner wohl umfangreichsten Gedichtsammlung, dem »West-Östlichen Diwan«, dichtete Goethe aus Perspektive eines Muslim. In einigen der darin enthaltenen Verse spricht er etwas an, worauf auch die Symbolik im Ritus der Mevlevi-Derwische hindeutet, nämlich auf das Leben und Sterben eines jeden von uns:
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Goethes hierin zitierte »Stirb und werde!« spielt wohl auch darauf an, was der Prophet Mohammed (as) in einer ihm zugesprochenen Überlieferung einst sagte: »Stirb bevor du stirbst«.
Einweihung in die Mysterien hat nichts mit dem Verraten von Geheimnissen zu tun, wie viele meinen. Es ist stattdessen die Vorwegnahme der Todeserfahrung. Wenn Goethe schreibt »Bist Du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde«, meint er damit all jene, die wie in geistiger Umnachtung sich Tag für Tag durchs Dunkel ihrer Unwissenheit schleppen, so als würden sie wachend schlafen und sich allein von den Triebkräften ihres Egos gesteuert durch die Welt bewegen.
»Komm nach Konya, wer immer du bist«
In Rumis Weisheit, aus der wir in seinen Schriften erfahren, darunter das Mathnawi und der Diwan-e-Schams, geht es immer wieder darum das Ego zu überwinden. Es ist ein Kampf den jeder Mensch nicht im Außen sondern in sich austragen muss, ein Kampf gegen das Böse im Herzen der eigenen Seele.
Nur in der Überwindung des Ich, kann einer, so Rumi, in seinem Herzen Göttlichkeit erblühen lassen. Wem damit gelingt die eigene Seele zum Sterben zu bringen, bevor er stirbt, der wird die höchste Stufe eines Liebenden erlangen. Und das ist wofür der Mensch eigentlich erschaffen wurde.
Es gilt die Schwächen eines auf das Diesseits gerichtete Dasein zu überwinden. Wem das gelingt, der wird die Menschen in seinem Umfeld selbstverständlich so nehmen wie sie sind und einer sein den man liebt für seine Liebe.
All jene die zum ersten Mal nach Konya kommen, und dabei noch unvollständig sind, so Rumi, verlassen die Stadt um dabei vollständig zu werden, ganz gleich was ihnen auch immer gefehlt haben mag. Ich muss sagen, dass das auf mich wirklich zutraf. Denn nach dieser Zeit hatte sich etwas in meinem Leben ganz grundsätzlich verändert.
Auch wenn das »nur« ein Zufall war, bin ich dennoch dankbar für diese Wende in meinem Leben, auch wenn ich noch immer daran arbeite. Veränderung ist eben mit Aufwand verbunden und manchmal auch mit Schmerz. Was man da braucht ist Geduld – viel Geduld.
Das Rumi aber erst einmal selbst diesen Weg gehen musste, darauf kommt man schnell wenn man sich mit seinem Werk befasst. Besonders die abrupte Trennung von seinem so sehr geliebten Lehrer Schemseddin stürzte Rumi in eine tiefe Krise. Was er durch die Überwindung dessen aber vollbringen sollte, das ist was uns bis heute so wertvoll erhalten geblieben ist. Kein Wunder wenn Rumi zum Beispiel bis heute der meist zitierte Poet in den Vereinigten Staaten ist.
Rumis Liebe war universal und galt Jedem, ganz gleich woher er stammte. Darum kamen zu seiner Beerdigung Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, jeglicher kulturellen Herkunft oder Religion. Darunter waren Sultane, Emire, doch ebenso ungebildete Menschen. Auch Rabbiner kamen, Imame und Christen-Priester, Heiden und die Gelehrten der großen Medressen (Schulen). Darum wohl finden sich in Rumis Mausoleum diese so oft zitierten Verse:
Komm, komm, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter,
du, der du den Abschied liebst,
es spielt keine Rolle.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm, auch wenn du deinen Schwur
tausendfach gebrochen hast.
Komm, komm, noch einmal, komm!