Mit dem Beginn der Neuzeit bildete sich ein begriffliches Konzept, dass für die förmliche Verpflichtung all jener stand, die den Weg eines Eingeweihten angetreten haben. Der Grund: Die Wahrung initiatischer Geheimnisse. Der französische Theologe Dallaeus (1594-1670) nannte das die »Disciplina Arcani«, die auch Voraussetzung für ein Esoterisches Christum ist.
Und doch schreibe ich nun diesen Artikel darüber. Ein Widerspruch? Es ist eben so, dass es sich bei der auch sogenannten »Arkandisziplin« insbesondere um eine mündlich weitergegebene Tradition handelt. Wahrhaft esoterische Inhalte können einfach nicht schriftlich erklärt werden, lassen sich nicht in eine festgeschriebene Lehre zwängen. Denn es geht dabei um ein »erlebtes Nachvollziehen« dessen, was vom Einzelnen in der Heiligen Schrift gelesen werden kann. Jemand muss sich dafür aber auf einen Weg begeben, um die darin beschriebenen seelisch-geistigen Prozesse in seiner Wirklichkeit selbst zu durchlaufen.
Für eine Initiation, einem echten Einweihungsvorgang, den jemand niemals alleine durchlaufen kann, braucht man einen Meister, jemanden der einst selbst eingeweiht wurde in eine Mysterien-Tradition. Es ist etwas das vor langer Zeit entstand und das man bereits in den Einweihungskulten der Frühgeschichte praktizierte. Die unzähligen Generationen von Eingeweihten, sollten die darin praktizierten kultischen Riten über Jahrtausende immer weiter veredeln.
Arkandisziplin der Essener-Bruderschaft
Wenn zuvor nun die Rede war von einer Disciplina Arcani, also quasi einer »Geheimen Ordnung«, wird damit etwas angesprochen das auch ein Gebot für die Riten in der Freimaurerei bildet. Da nämlich besteht die strenge Verpflichtung der Ordensmitglieder die Kult-Gebräuche geheim zu halten, die sie in ihrer Initiation erfuhren. Hierbei geht es in erster Linie darum, ganz einfach Missverständnisse zu vermeiden. Denn weniger wird da eine Weitergabe intellektuellen Wissens geübt, als vielmehr um Erfahrungen, die überhaupt nicht besprochen werden können.
Im Kontext des antiken Judentums, definierte der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (* 37 n. Chr.) die für das Christentum ganz zentrale Bruderschaft der Essener. Ihre Kultpraxis bezog sich sehr wahrscheinlich auch auf die in den antiken Mysterienkulte ausgeübten Riten. Manche gehen davon aus, dass zu ihren Eingeweihten sowohl Jesus, Johannes der Täufer wie auch der Apostel Paulus zählten. In seinem Buch über den Jüdischen Krieg, in dem er die Essener als »Sekte« bezeichnet, schrieb Josephus über sie:
Bewirbt sich einer um die Aufnahme in die Sekte, so wird ihm der Eintritt nicht sofort gestattet. Vielmehr muss er noch ein ganzes Jahr draußen bleiben […] Hat er dann im Verlaufe dieser Zeit bewiesen dass er zur Enthaltsamkeit fähig ist, darf er sich dem Essenerleben um eine weitere Stufe nähern, indem er an dem heiligen Bade der Reinigungszeremonie teilnehmen darf. Bevor er jedoch gemeinsam mit den Anderen zu Tische essen darf, muss er sich zuerst durch schauerliche Eidschwüre vor ihnen verpflichten, vor allem der Gottheit die gebührende Verehrung zu erweisen. Jeder solle stets die Wahrheit lieben und entschlossen sein, den Lügnern den Mund zu stopfen; seine Hände, gelobt er, rein von gestohlenem Gute, rein auch die Seele von schmutzigem Gewinn zu bewahren. Vor den Anhängern seiner Sekte darf er nichts verheimlichen und verpflichtet sich auch umgekehrt an andere keine internen Angelegenheiten zu verraten, auch wenn man ihn zu Tode foltern würde. Außerdem muss er noch schwören, sämtliche Lehren der Sekte ohne Entstellung, genau so, wie er sie selbst vernommen hat, überliefern zu wollen, sich auch jeder Verstümmlung derselben zu enthalten, sowie die Bücher der Sekte und die Namen der Engel sorgfältig zu hüten. Mit solchen Eidschwüren fesseln sie nun die Eintretenden vollständig an die Sekte. Wer bei einem bedeutenden Vergehen ertappt worden ist, wird aus der Genossenschaft gejagt, und muss gar oft als Ausgeschlossener auf die erbärmlichste Weise sterben und verderben.
– Josephus, Bellum Iudaicum II:137-143
Aus theologischer Sicht ist das eine Versicherung, dass die Gruppe als solche sich »rein halten« muss, um dem, durch diese heilige Praxis vollzogenen göttlichen Anliegen zu entsprechen.
Gleichnis und Geheimnis
Die frühen Stadien des Christentums gingen hervor aus einem Kern mündlicher Lehren, die auf dem alten Judentum Griechenlands und Palästinas beruhten und die die Grundlage einer geheimen mündlichen Tradition bildeten: Die Disciplina Arcani. Man könnte hier durchaus von einer »Geheimen Tradition« sprechen, die eine Einweihung erfordert. Denn um sie zu erlernen und zu verstehen gibt es einfach keine kanonisch festgelegten Bücher.
Wenn nun der Begriff eines »Esoterischen« Christentums ins Spiel kommt, geht das Adjektiv »esoterisch« zurück auf einen Begriff der überdies erst im 17. Jahrhundert geprägt wurde. »Esoterik« leitet sich ab vom griechischen Wort »esôterikos«, dem »Inneren«. Und damit geht es beim Esoterischen Christentum um eine innere Lehre, in der praktisch erfahrbare Aspekte zusammenlaufen sowohl aus den kanonischen Evangelien, wie auch den paulinischen Briefen, dem Buch der johannitischen Offenbarung und dazu auserwählten apokryphen Schriften des Neuen Testaments.
Wenn wir oben sagten, dass die Mysterientraditionen schon seit sehr alter Zeit existieren: Wäre dann nicht auch möglich, dass auch die zwölf Apostel Christi rein mündliche Überlieferungen kannten, in die sie Jesus Christus initiierte? Zum Volk nämlich sprach der Christus allein in Gleichnissen. Wie folgendes Zitat aus den Evangelien andeutet, hatte Jesus Christus die Apostel innerlich vorbereitet, um ihnen den tieferen Sinn seiner Gleichnisse zu erklären; man könnte sogar sagen, dass er ihnen dabei ein geistiges Werkzeug überreichte, mit dem sie ein inneres Initiationserlebnis auszulösen vermochten.
Und ohne Gleichnisse redete er nicht zu ihnen; aber wenn sie allein waren, legte er seinen Jüngern alles aus.
Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen draußen aber widerfährt es alles in Gleichnissen, auf dass sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.
– Markus 4:34, 10-12
Über den eigentlichen Austausch des Christus mit seinen Jüngern wissen wir heute ja nur, da uns die biblischen Schriften vorliegen. Doch manche der Andeutungen die Christus etwa in den Evangelien machte, sind auch für ein heutiges Esoterisches Christentum durchaus von hohem Wert.
Die Silberschnur
Wenn wir also sagten, dass die Inhalte eines Esoterischen Christentums nur für denjenigen verständlich und praktisch nachvollziehbar ist, der bereits eine Einweihung in das damit zusammenhängende geheime Wissen erfuhr, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es sich beim Christentum an sich schon um eine ihrem Zeitalter entsprechende Form der alten Mysterienreligionen handeln könnte.
Es scheint jedoch, als ging es dabei nur um wenige Individuen, die auf diesem Wege zu Erleuchtung fanden, wie uns etwa die Geschichten über christliche Heilige berichten. Bedeutsam in diesem Zusammenhang jedoch ist: Wem wirklich gelingt die Geheimnisse eines Esoterischen Christentum zu erfahren und dabei ihre echte Kostbarkeit zu erkennen, der beginnt einen Weg zu beschreiten auf dem er sein dabei erfahrenes, praktisch anwendbares Wissen, allein zum Wohle seiner Mitmenschen einsetzt.
Diesen Weg beschreiten jene, denen man begegnet auf dem Weg zur Erforschung der Ursprünge des Gnostizismus, der christlichen Theosophie und des Rosenkreuzertums. Wie der Erfahrene weiß, hat das nur wenig mit den biblischen Texten an sich zu tun.
Bei alle dem könnte sich jetzt der einen oder dem anderen die Frage in den Weg stellen, wieso man ein Esoterisches Christentum praktizieren soll, wenn bereits das biblische Christentum soviel Wahrheit befördert hat, dass es sich bis in die entlegensten Orte der Erde ausgebreitet hat? Es geht eben, wie wir oben ja gesagt haben, um etwas Inneres und nicht Weltliches. Nicht soll ein äußerer Rahmen der Zusammenkunft gefestigt, sondern das Bewusstsein geschaffen werden dafür, dass wir alle im spirituellen, inneren Kern unseres Seins miteinander verbunden sind. Daher dreht es sich beim Esoterischen Christentum vor Allem um die Entwicklung von Methoden der Selbstbeobachtung eines Menschen. Diese können ihm dann zu der Erkenntnis verhelfen, dass sich die vermeintlich körperliche Getrenntheit der Menschen dadurch überwinden lässt, wenn sie die eigene Herzverbundenheit mit allen anderen Menschen in sich erfahren.
Ein tieferes, inneres Verstehen des Gesagten aber sollte insbesondere auch jenen gelingen, die die Absicht für ein tieferes Verstehen für das erwägen, was der Apostel Paulus in seinem 2. Korintherbrief als außerkörperliche Erfahrung beschreibt:
Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.
– 2. Korinther 12:1-4
Obwohl es scheint, dass er sich auf jemand anderen bezieht, sind sich Theologen darüber einig, dass er da von sich selbst, nur eben in der dritten Person spricht.
Was Paulus hier sagt, deutet hin, was auch als sogenannte »Astralprojektion« bezeichnet wird. Ein in diese Praxis Eingeweihter beabsichtigt dazu seine Seele im Gefährt seines Astralleibes auf eine Reise außerhalb seines Körpers zu schicken, wobei sie sich, wie ja Paulus sagt, in die Sternenwelt begibt (»dritter Himmel«). Doch Vorsicht ist geboten. Zumal nur der, wer sich der so genannten »Silberschnur« bewusst geworden ist (einer energetischen Verbindung seines Astralleibs mit dem physischen Leib), darf sich nach solch einer Richtung hin »auf Reisen begeben«. Zerreißt nämlich diese Silberschnur, kann die Seele nicht in den physischen Leib zurückkehren, was dann bald zum irdischen Tod führt. Im Salomonischen Buch Kohelet heißt es dazu:
Dann geht der Mensch hin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse, – ehe noch die Silberschnur zerreißt, und die goldene Schale bricht, und der Krug zerschmettert an der Quelle, und das Rad am Brunnen zerbrochen wird.
– Kohelet 12:3
Allerdings kommen wir hier dem sehr nah, was wir oben über das Christentum als Mysterienreligion sagten. Denn da wird einer zum Wissenden, der durch die Führung eines Meisters die Vorwegnahme seiner Todeserfahrung erfuhr und sich die Silberschnur nur anscheinend löste: Ein Hindurchgehen durch den Sterbevorgang noch zu Lebzeiten – eingeleitet durch eine so erfahrene, doch bewusst von Außen gesteuerte Extremsituation. Im Christentum ist das natürlich angedeutet in der Symbolik des auferstandenen Christus. Doch für die Nicht-Eingeweihten, bleibt es bloß eine Ahnung.
Dem esoterisch forschenden Christen
Die Traditionsstränge, die ihren Anfang nahmen in den paulinischen und johanneischen Schriften, bilden die neutestamentliche Grundlage für ein Esoterisches Christentum (Paulusbriefe, Offenbarung des Johannes). Sie versuchen den Gläubigen scheinbar auf einen inneren Weg zu Christus zu führen – was jeder nachvollziehen kann, der sich mit ihren Inhalten ein wenig beschäftigte.
Sie kommen aber kommen ganz ohne eine heilsvermittelnde Instanz der Kirche aus. Denn für den esoterisch forschenden Christen ist naheliegend, sich auch mit den Inneren Lehren anderer Religionen zu befassen. So jemand dürfte in sich alsbald einen Impuls vernehmen, der ihn zu der Einsicht bringt, dass es das letztendliche Ziel unserer Zivilisation sein könnte, sich mit anderen Traditionen zu verbinden, zur Schaffung einer universalen Bruderschaft.
Wenn in diesem Zusammenhang nun die Rede ist von einem »Inneren Christus«, der in jedem Einzelnen, in diesem gegenwärtig aufdämmernden Zeitalter zur Welt gebracht werden soll, wird der so Erfahrende sich früher oder später mit der Aufgabe vertraut machen, sich seiner in ihm allzeit gegenwärtigen Göttlichkeit bewusst zu werden. Er könnte damit konsequenterweise zu der Erkenntnis gelangen, dass sein spirituelles Streben ihn nach und nach zu einer weit größeren Quelle der Weisheit führt. Darum: Wer in sich solch Erfahrung machte, stimmt mir sicherlich zu, wenn ich behaupte, dass man damit alles daran setzen wird sich mit anderen so Erfahrenden zu verbinden. Und das nicht zuletzt dafür, um besonders in seinem direkten Umfeld ein Streben nach mehr Menschlichkeit und Zusammenleben zu inspirieren. Doch das, ganz und gar ohne andere maßregeln zu wollen.
Aus dem Innern im Außen verbunden
Im Kontext eines weltlich-christlichen Lebens werden die geschilderten Initiationserlebnisse einfach nicht berücksichtigt. Es scheint sogar, als versuchten christliche Institutionen durch eine vermeintlich verneinende Haltung gegenüber einer christlichen Esoterik zu handeln. Und das aus dem Grund, seine Gläubigen in einem Bewusstsein reiner Vordergründigkeit zu halten. Die Zeichen am Wegesrand eines Esoterischen Christentums aber, wollen einen dort spirituell Reissenden daran erinnern, dass ohne einen tieferen, erlebnismäßigeren Bezug des Gläubigen zum Geglaubten, dessen Glaube einfach nur ein abstrakter Begriff bleibt, der viel zu oft mit einem reinen »Vermuten« verwechselt wird. So leider hält sich das, was man als wahre christliche Herrlichkeit bezeichnen könnte vor einem verborgen.
Vielleicht wird der Begriff »esoterisch« in diesem Zusammenhang auch absichtlich umgangen, da viele Menschen damit Vorstellungen elitärer Geheimzirkel assoziieren. In der Tat ist es aber so, dass wahre Esoterik sich dem äußeren Blick entzieht, der sich doch aber allein nur auf das von vornherein Offenkundige richten kann. So umschließt das Esoterische also ein Geheimnis, zu dem nur jene vordringen, die dazu bereit sind ihren eigenen, individuellen Weg zu beschreiten, der von außen nach innen führt. Doch von dort wieder zurück in ein Außen, einer wahrhaftig von innen her erfahrenen Verbundenheit mit den Menschen in unserer Umwelt.