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Tikkun Olam: Die spirituelle Reparatur des Kosmos

Laut der Geheimlehre der Kabbala hatte Gott im Schöpfungsprozess einen Teil seines unendlichen Lichts – dem in sich selbst verborgenen »Ain Soph« – zusammengezogen, um daraus die Welt zu erschaffen. Doch es kam zu einem Bruch der Lichtgefäße der Schöpfung, der »Kelim«, deren Scherben ins »wüste und leere« Chaos stürtzten.

Diese Scherben verwandelten sich in spirituelle Lichtfunken, die im »nächsten Universum«, in der »Welt der großen Korrektur«, in der Materie gefangen und damit in sie »eingesperrt« wurden, worin sie bis heute gefangen sind, in dieser Welt unserer Gegenwart.

In der Kabbala nun scheint dieser Weltprozess einem heiligen Zweck zu dienen, durch den alles in der Welt befindliche Leben irgendwann zur Erkenntnis der Einheit Gottes findet und damit das Böse überwunden wird. Das stellt die Vollendung der göttlichen Schöpfung dar, was die Kabbalisten den »Tikkun« nennen – die universale Korrektur.

Es ist darum eigentlich keine wirkliche Trennung zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen. Alles was als Spirituelles über dem Weltlichen liegt, ist in Wirklichkeit damit auch verbunden. Jeder Mensch, so die Kabbalisten, besitzt die Fähigkeit die darin wirkenden spirituellen Kräfte durch sein Handeln in der Welt und damit in freiem Willen zu steuern. Sobald die gesamte Menschheit diese Tatsache erkennt, so die Kabbala-Gelehrten der Rabbiner von einst, wird sich der ursprüngliche Weltprozess schließlich erfüllt haben.

Erneuerung einer sehr alten Lehre

Im 16. Jahrhundert kam in Jerusalem der berühmte Kabbalist Isaak Luria (1534-1572) zur Welt. Aus seinen, nur von Mund zu Ohr an seine Schüler (darunter vorallem Chaim Vital) weitergegebenen Weisheitslehren, sollte das hervorgehen, was heute allgemein als die »Lurianische Kabbala« bekannt ist.

Luria interpretierte das sehr alte System der Kabbala jedoch vollkommen neu, womit er es aber nicht verwarf sondern auf geniale Weise vervollkommnete. Er sah in der ihm aus der »Welt des Heiligen Geistes« neu offenbarten Lehre, die wahre Bedeutung und tiefere Systematisierung des kabbalistischen Buches Sohar, was bis zu seiner Zeit das vorherrschende kabbalistische System in der jüdischen Mystik bildete. Seit Luria aber, lesen Kabbalisten den Sohar im Licht der Lurianischen Kabbala – was aus Luria einen Weisen werden lassen sollte, den man darum auch den »Ari« nennt, den »Löwen der Weisheit«.

Seine Kabbala beschreibt einen dynamischen Prozess einer Erlösung der Seele im göttlichen Fluss, bei dem die Kräfte höherer Ebenen in die niedrigeren Zustände unseres Daseins einfließen. Um aber zu verstehen, was mit dem hier und dem bisher Gesagten gemeint ist, müssen wir uns zunächst einmal mit einigen grundlegenden Gedanken Lurias vertraut machen.

Für Isaak Luria erfolgte der besagte Tikkun, die Korrektur des ursprünglichen »Unfalls« im Schöpfungsprozess, in den Handlungen aller Menschen, die zu einer »ethischen Heilung der Welt« beitragen wollen – sofern sie jedoch zuerst einmal davon erfuhren. Für Luria war bereits das Gebet und die damit verbundene Hinwendung zu Gott etwas, das die in der Finsternis eingekerkerten Lichtfunken zunächst einmal in Bewegung versetzt.

Selbst kleine gute Taten im Umgang mit anderen Menschen, Freundlichkeit und die Förderung der Kunst unseres Zusammenlebens, soll bereits einen entscheidenden Beitrag zu diesem Tikkun leisten. Und wenn nun entsprechend jede solcher Handlungen einen göttlichen Funken erlöst, kann er Menschen in ihrem Leben zu der Hoffnung verhelfen, dass ihr Tun einen langfristigen Wert haben wird. Doch damit ist nicht gemeint, dass die Lurianische Kabbala glaubt, dass die sogenannte Reparatur der Lichtwelt, also der Tikkun, ohne ein Bewusstsein für die mystischen Welten erfolgen kann.

Die nach dem Tzimtzum entstandenen Welten: aus einem, den Schriften des Luria-Schüler Chaim Vital gewidmeten Manuskript (1610) - ewigeweisheit.de
Die nach dem Tzimtzum entstandenen Welten: aus einem, den Schriften des Luria-Schüler Chaim Vital gewidmeten Manuskript (1610).

Die Selbstkontraktion Gottes aus seiner eigenen Mitte

Wie sich den Lehren Lurias entnehmen lässt, leitete Gott die Schöpfung dadurch ein, dass er sich im Anfang des Schöpfungsprozesses daraus selbst entzog – aus dem, was er im Chaos der unbegrenzten Potentiale erschaffen hatte. Dies leitete ein, was Isaak Luria den »Tzim-Tzum« (hebr. »Einschränkung«) nennt. Hiermit kam es zur Bildung eines, man könnte sagen »Vakuums«. Durch die Selbstbeschränkung Gottes entstand damit also ein leerer, finsterer Raum. Aus dem zurückgezogenen göttlichen Potential eines unsichtbaren, aber unendlich wirksamen Lichts (dem besagten »Ain Soph«) brach alsdann ein dünner, neuer Emanationsstrahl in diesen leeren Urraum hinein, woraus eine Endlichkeit entstand, aus der unser Kosmos in seine Existenz kam.

Mit dem Schöpfungsvorgang nun kamen die Sefiroth ins Sein, die zehn Lichtsphären wie sie im Lebensbaum der Kabbala erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt existierten die Sefiroth also bereits, in Form vollkommen reinen Lichts. Doch sie standen noch in keiner systematischen Beziehung zueinander. Das Problem dabei nun war, dass sie in ihrer solch ursprünglichen Existenz noch nicht der Kraft des weiter nachfließenden, grenzenlosen Urlichts, dem »Ain Soph«, standhalten konnten. Und so kam es zu dem, was Luria »Schiwrat Ha-Kelim« nannte: die Zertrümmerung der »Kelim«, der Bruch der göttlichen Lichtgefäße. Hieraus sollte die Welt des Chaos entstehen und mit ihr das, was wir als das Böse bezeichnen. Die ursprüngliche Lichtkraft in den Sefiroth aber wurde bei diesem göttlich-kosmischen Unfall in Form von Fragmenten, sogenannten »Funken« (hebr. »Nitzotz«) in die zerbrochenen, dunklen Schalen der Sefiroth, als Lichtpotentiale eingeschlossen.

Zwischen Gutem und Bösem

Die mit diesem Vorgang einhergehenden Ereignisse nun kippten die Scherben der zerbrochenen Schalen der Sefiroth, die man in der Kabbala als »Klipoth« bezeichnet, in die Bereiche des Bösen. In diesem Prozess jedoch waren nur die Gefäße der unteren sieben Sefiroth betroffen, die sich in den drei kabbalistischen Welten

  • »Briah«, die Welt der Schöpfung,
  • »Yetzirah«, die Welt der Gestaltung, und
  • »Assia«, Welt der Handlung

des kabbalistischen Lebensbaumes befinden. Nur die Sefiroth der obersten Welt »Atziluth«, konnten dem Licht, dass aus dem Ain Soph nachströmte, standhalten. So kam es, dass sich in Atziluth, die man auch die Welt der göttlichen Emanation nennt, dann wiederum der Tikkun Olam ermöglicht werden sollte, die »Universale Reparatur«, worin sich die Sefiroth im kabbalistischen Lebensbaum zu den »göttlichen Gesichtern«, den »Partzufim« harmonisch konfigurierten.

Mit der Formung der Partzufim ging dann einher das, wofür sich zuerst der himmlische Adam, der »Adam Kadmon«, als Kollektiv aller Seelenfunken der Menschheit verkörperte – bis er jedoch vom Baum der Erkenntnis von Gutem und Bösem aß und damit aus der spirituellen, der himmlischen, in die physische Welt stürtzte und sodann einen fleischlichen Leib annahm.

Durch die Kost vom verbotenen Apfel, wurde der Adam also an die zeitliche, materielle Welt gebunden, und vergaß dabei den »Baum des Lebens« und damit die wahren, heiligen Werte der zehn Sefiroth (wie sie sowohl in der Systematik des kabbalistischen Lebensbaumes auftauchen, als auch in den Geboten der Tora). Als Abkömmling dieses kosmischen Urmenschen aber, so heißt es, wurde dem Menschen von Gott die Lehre der Kabbala gegeben, die ihn wieder zum Licht des vergessenen Lebensbaumes führen soll.

Des Menschen Aufgabe

Durch diesen, so genannten »Sündenfall« kam es zur Streuung der göttlichen Lebenskraft, ins Exil der geschaffenen, irdischen Welt von Assia, wo Gott aus sich die Seelenfunken ins Irdische hinabfallen ließ. Isaak Luria vertrat die Ansicht, dass, wenn diese Funken göttlichen Lichts befreit werden, die Welt in ihrer reinen kosmischen Ordnung wiederhergestellt werden kann.

In der Lurianischen Kabbala wird nun angedeutet, worin die Aufgabe des Menschen in der irdischen Inkarnation seiner Seele besteht. Da nämlich muss er mitarbeiten, um die ursprüngliche, reine Schöpfungsordnung (vor dem Fall, vor dem »Schirwat Ha-Kelim«) wiederherzustellen. Es wird das als Grund dafür genannt, dass eine Seelenmonade überhaupt sich in einen im Mutterleib wachsenden fleischlichen Leib hüllt. Damit fällt sie in einen tiefen Schlaf (aus dem sie nur in der nächtlichen Traumphase des Menschen erwacht). Doch der »Erwachte«, ein Mensch also, der initieert ist in die Geheimlehre des kabbalistischen Lebensbaumes, kann durch

  • Gebet und meditatives Kontemplieren (hebr. »Kawwana«),
  • ein zurückhaltend geführtes Leben und
  • seiner Erfüllung der himmlischen Gebote (hebr. »Mitzwot«),

zur Befreiung des Urlichts aus den Schalen der Klipoth sehr wohl beitragen.

Für sich und für andere

Die Reinkarnation einer menschlichen Seele (hebr. »Gilgul Neschamoth«) erfüllt dabei den Zweck, dass sie sich, indem sie sich immer wieder in neue Menschengestalten hüllt, ihrer eigentlichen, von Gott vorherbestimmten Rolle widmen kann. So wird sie am Tikkun, der spirituellen Reparatur der Welt, mitarbeiten.

Beim Tikkun Olam nun spielt der Gegensatz zweier Sefiroth im kabbalistischen Lebensbaum eine entscheidende Rolle, die man als archetypische Grundwahrheiten aller Moral definieren kann:

  • Die vierte Sefirah Chesed – die Güte, und
  • die fünfte Sefirah Geburah – die Strenge (auch: das Gericht).

Das Streben eines Menschen in seinem persönlichen Tikkun, was quasi mit einer »Veredelung« seines irdischen Daseins und der in ihm lebendigen göttlichen Seele einhergeht, erfolgt durch die Herstellung des Gleichgewichts zwischen seiner Güte (Chesed) und seinem Urteilen, seiner Strenge (Geburah). Hiermit nämlich soll ein Mensch die Befähigung erlangen, nicht nur jene göttliche Lichtfunken freizusetzen die in den Klipoth seines eigenen Körpers gefangen sind, sondern auch jene Funken in den Menschen zu erwecken, denen er oder sie auf ihrem Lebensweg begegnen.

Die Vollendung

Führt ein Mensch ein bewusstes und konsequent spirituelles Leben, kann er in sich eine besondere, heilige Ethik zum Erblühen bringen. Sie wird ihn dann allmählich, aus seinem Inneren heraus, anleiten, die in die Materie verbannten göttlichen Lichtfunken zu ihrer Quelle zurückzuführen. So jemand hat dann erkannt, dass in allen Dingen (und auch Ereignissen) ein spiritueller Wert steckt und somit auch heilig ist. Tägliche Aufgabe des Menschen wäre darum, diesen Wert in der materiellen Welt zu entdecken und hervorzuheben und so unsere Welt in ein spirituelles Reich zu verwandeln.

Erst wenn dabei der letzte Lichtfunke befreit und die gesamte Welt mit spirituellem Wert ausgestattet ist, wird der Tikkun Olam vollendet sein.

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