Der Mensch und die Unsterblichkeit

Im Talmud, der Schriftensammlung zur Auslegung der Hebräischen Bibel, steht im Mittelpunkt die Darstellung des Menschen, als das Höchste von allem, dass durch Gott erschaffen wurde. Ebenso stellt die Kabbala den Mensch dar als das perfekteste Wesen dieser Schöpfung.

Eng verbunden mit ihren metaphysischen Lehren ist die kabbalistische Psychologie. Zwar stellen in der Kabbala auch die Organe des menschlichen Körpers besondere Geheimnisse der Weisheit dar (siehe im Buch Sefer Yetzirah, Kapitel III-V), doch der wahre, der eigentliche Mensch ist die Seele. Der Körper ist das Gewand worin sie gehüllt erscheint, als der wahre, als der innere Mensch.

Nun setzt sich die Seele in der Kabbala aus drei Teilen zusammen, die mit den Sefiroth (den Lichtsphären) in den Welten des Kabbala-Lebensbaumes korrespondieren. Da ist zum einen die Nefesch, der Teil des Seelischen der der Welt von Assia entspricht und die im irdischen Leib des Menschen als animalisch-empfindsames Prinzip wirksam ist. Darüber sind die beiden höheren Seelenanteile mit ihr verbunden, nämlich Ruach (das »ch« wird ausgesprochen wie beim deutschen Wort »Dach«), in der Welt von Yetzirah, und Neschamah, dem Anteil der Welt von Briah.

Ruach repräsentiert all das was sich, man könnte sagen, im Leben eines Menschen im Feld seiner Ethik abspielt. Es ist der Sitz von Gutem und Bösem. Je nachdem, ob sich ein Mensch hauptsächlich seiner Nefesch zuwendet oder seiner Neschamah, wird er seinem und dem Leben anderer Menschen entsprechend schaden oder Nutzen und Heilung bringen. Neschamah nämlich steht in der Kabbala für die reine Geistigkeit eines Menschen, die die höchste Form des göttlichen Lichts in seinem Seelenleben repräsentiert.

Nun entstehen diese drei Bestandteile der Seele natürlich auf unterschiedliche Weise. Der besagte höchste Seelenanteil der Neschamah entspringt direkt der göttlichen Weisheit. Ruach wurzelt im Zentrum der kabbalistischen Welt von Briah, in der Sefirah Tifereth, die man auch als die »Schönheit« bezeichnet. Der Seelenanteil der Nefesch wurzelt in der Sefirah Malkuth, der »Herrschaft«.

Was ist der Grund der Inkarnation der Seele?

Jeder Mensch hat neben dieser Dreifaltigkeit der Seele, eine ganz eigene Wesensart, die in der individuellen Erscheinungsform seines Körpers zum Ausdruck kommt. Ihn belebt das geistige Prinzip einer Wirksamkeit, die vom Herzen ausstrahlt. Diese beiden Elemente, also die Individualität der körperlichen Gestalt und der vom Herzen ausgehende Lebensgeist, gehören jedoch nicht mehr zur seelischen Natur des Menschen und werden darum auch nicht in die beschriebene Dreifaltigkeit der Seele miteinbezogen.

Die Kabbalisten aber haben eine sehr interessante Erklärung dafür, wie Körper und Seele miteinander verbunden sind. Alle Seelen nämlich existierten da schon vor der Bildung des Körpers in einer übersinnlichen Welt. Diese Vorstellung stammt wahrscheinlich aus der zoroastrischen Religion des Alten Iran, wo man erfährt über die »heiligen Fravaschis«: Das sind Geistwesenheiten, die in dieser Religion drei verschiedene Rollen spielen:

  1. gemeinsam bilden sie eine Armee mächtiger Kriegsengel, die sich im Konflikt zwischen Gut und Böse auf die Seite des Guten stellen;
  2. als spirituelle Aspekte des menschlichen Seins, verkörpern sie das Wesen der Toten, der Lebenden und der zukünftigen Menschen;
  3. sie verkörpern die Geister der Ahnen der Menschen.

Man könnte also sagen, dass es sich bei dem Beschriebenen, um eine Art »kosmische Helden des Lichts« handelt, mit denen sich der Gott des Guten (Ahuramazda) vor der Erschaffung der Welt beriet.

In den Prophezeiungen des Propheten Henoch galt das als eine himmlische Zusammenkunft der Heiligen und der Gerechten, die da unter den Flügeln des Herrn der Geister stattfindet und in dessen Mitte sich dann der Auserwählte befindet – der Messias.

Hier sah ich ein anderes Gesicht: Die Wohnungen der Gerechten und die Ruhestätten der Heiligen.

Hier sah ich mit eigenen Augen ihre Wohnungen bei seinen gerechten Engeln und ihre Ruhestätten bei den Heiligen, und diese baten, legten Fürsprache ein und beteten für die Menschenkinder. Gerechtigkeit floss vor ihnen wie Wasser und Barmherzigkeit wie Tau auf Erden;
so ist es bei ihnen für immer und ewig.

An jenem Orte sehen meine Augen den Auserwählten der Gerechtigkeit und Treue (den Messias); Gerechtigkeit waltet in seinen Tagen und ungezählte Auserwählte und Gerechte werden für immer vor ihm sein.

Ich sah seine Wohnstätte unter den Fittichen des Herrn der Geister. Alle Gerechten und Auserwählten glänzen vor ihm wie Feuerschein; ihr Mund ist voll von Segensworten; ihre Lippen preisen den Namen des Herrn der Geister und Gerechtigkeit hört nicht mehr vor ihm auf.

– Henoch 39:4-7

Es ist ein Hinweis auf eine »himmlische Versammlung der Gerechten«, die in der messianischen Zeit erscheinen wird.

Wenn die Geheimnisse der Gerechten offenbar werden, dann verfallen die Sünder der Strafe und die Bösen werden aus der Gegenwart der Gerechten und Auserwählten verstoßen. […] Dann lässt der Gerechte und Auserwählte das Haus seiner Gemeinde (den Tempel) wieder erscheinen; von nun an wird sie nicht mehr behindert, im Namen des Herrn der Geister.

– Henoch 38:3, 53:6

Doch hierzu müssen erst alle Seelen auf der Erde inkarniert sein, wie es im Talmut-Traktat »Yevamot« heißt:

[…] der Messias, der Sohn Davids, wird erst kommen, wenn alle Seelen des Körpers vollendet sind, das heißt wenn alle Seelen, die dazu bestimmt sind, physische Körper zu bewohnen, dies auch tun werden […]

Im Laufe der Zeit werden demzufolge alle Seelen-Monaden mit ihrem jeweiligen Körpern vereint. Ihre Inkarnation ist durch die Endlichkeit des Körpers bedingt. Das heißt, dass sie gezwungen ist, sich mit dem Körper zu vereinigen, um am kosmischen Schauspiel der Schöpfung teilzuhaben. In ihrer Betrachtung dieses Vorgangs, wird sich die Seele ihrer selbst und ihrer Herkunft bewusst, um schließlich, nachdem sie ihre Lebensaufgaben auf Erden erfüllt hat, zur unerschöpflichen Quelle des Lichts und des Lebens zurückkehren – zu Gott.

Über die Wiederkehr der Seelen

Während Neshamah nach dem Tod eines Menschen zu Gott aufsteigt, geht Ruach ein in den Garten Eden, so die Kabbalisten. Dort nämlich kommt sie in den Genuss der paradiesischen Freuden. Nefesch aber bleibt auf der Erde, wo sie ihrerseits ihren Frieden unter den Lebenden findet. Nur aber den gerechten Menschen wird dies zuteil.

Stirbt hingegen ein sogenannter »Gottloser«, so stößt auf ihrem Weg die mit Sünden befleckte Neschamah auf Hindernisse. Diese halten sie davon ab zu ihrem göttlichen Ursprung zurückzukehren. Erst wenn es ihr gelungen ist zurückzukehren, erst dann kann Ruach den Garten Eden betreten und Nefesch ein irdischer Friedens beseligen.

 

Die Erschaffung Adams: Byzantinisches Mosaik aus dem 12. Jahrhundert in der Kathedrale von Monreale (Italien) - ewigeweisheit.de
Die Erschaffung Adams: Byzantinisches Mosaik aus dem 12. Jahrhundert in der Kathedrale von Monreale (Italien). Man sieht hier die Übertragung des Lebensodems Ruach auf Adam (rechts).

 

Bei dem Besagten aber dürften alle aufmerken, die sich mit der Thematik der Reinkarnation befasst haben. Und in der Tat sind diese Ansichten eng verbunden mit den Vorstellungen der »Metempsychose«, der Wanderung der menschlichen Seele durch verschiedene Körper, in aufeinanderfolgenden Leben, was für die Kabbala von großer Bedeutung ist. Es heißt, nachdem die Seele von den Fesseln des Körpers befreit wurde, begibt sich der menschliche Geist in ein ätherisches Fahrzeug, womit er in die Region des Totenreichs übergeht (eine Vorstellung, die sehr wahrscheinlich aus dem Weistum Alt-Ägyptens übernommen wurde). Dort verbleibt dieser Seelengeist, bis er in diese Welt zurückgeschickt wird, um einen neuen menschlichen Körper zu bewohnen.

Erst wenn sich die Seele, über mehrere Inkarnationen hinweg ausreichend geläutert hat, darf sie zu der ewigen Quelle zurückkehren, der sie ursprünglich entstammt. Das heißt, dass die Seele zu ihrem Ursprung also erst zurückkehren kann, wenn sie zuvor im irdischen Leben die volle Entwicklung all ihrer Vollkommenheiten erreicht hat. Gelingt ihr nicht, die damit verbundenen Bedingung im Laufe eines Lebens zu erfüllen, so muss sie in einem anderen Körper von Neuem beginnen, bis sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

Rabbi Isaak Luria (1534-1572) fügte der besagten Metempsychose noch eine weitere Theorie hinzu und zwar die der »Befruchtung der Seelen«. Für ihn galt die Gesetzmäßigkeit, dass wenn zwei Seelen sich ihren Aufgaben nicht gewachsen fühlen, Gott beide in einem Körper vereint. Im Talmud finden wir dazu dieses Gleichnis:

Womit ist diese Angelegenheit zu vergleichen? Sie ist vergleichbar mit einem König aus Fleisch und Blut, der einen schönen Obstgarten hatte, und darin waren Er kaufte die ersten Früchte eines Feigenbaums und stellte zwei Wächter im Obstgarten auf, einen Lahmen, der nicht gehen konnte, und einen Blinden. Keiner von beiden war in der Lage, die Früchte an den Bäumen im Obstgarten ohne die Hilfe des anderen zu erreichen. Der Lahme sagte zu dem Blinden: Ich sehe schöne erste Früchte an einem Feigenbaum im Obstgarten; komm und nimm mich auf deine Schultern. Ich werde dich zu dem Baum führen, und wir werden die Feigen holen, um sie zu essen. Der Lahme ritt auf den Schultern des Blinden, und sie brachten die Feigen und aßen sie.

– Sanhedrin 91 a, b

Wenn eine der beiden Seelen Hilfe braucht, wird die andere zu ihrer »Mutter«, die sie in ihrem Schoß trägt und mit ihrer eigenen Substanz nährt. Ist das nicht eine wahrhaft tröstliche Vorstellung? Doch wer weiß schon davon?

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