Beobachtungen und Reflektionen auf einer Reise nach Varanasi
Der Hinduismus, den ungefähr eine Milliarde Menschen auf diesem Planeten als „ihre eigene“ Religion betrachten, zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus.
Kreative Ergänzungen statt scheinbarer Gegensätze
So verbinden sich in ihm hochphilosophische Deutungen göttlicher Kräfte mit ganz anschaulichen visuellen Vorstellungen. Beide Sichtweisen, also komplexeste Abstraktionen, ebenso wie farbenfrohe und lebendige künstlerische Formen der Darstellung stehen gleichberechtigt nebeneinander, ohne sich auszuschließen oder als widersprüchlich betrachtet zu werden.

Ein mindestens 1000 Jahre alter religiöser Text, das Shiva-Purana, legt Zeugnis ab von dieser Toleranz. Hier nämlich wird beschrieben, wie Mena, die Gattin des Gebirgsgottes Himavat es zustandebrachte, die Göttin Parvati zu gebären, die zur Gemahlin des Gottes Shiva werden sollte:
Nachdem die Götter die große Mutter geschaut hatten, widmeten sich Menaka und ihr Gatte der eifrigen Verehrung. Sie meditierten Tag und Nacht über Shiva und Shakti mit demütigem Geist und ehrten sie ununterbrochen. […] Sie wünschte sich so sehr ein Kind, daß sie die Göttin für 27 Jahre ohne Unterlaß verehrte. Sie begann damit im Monat Chaitra (März/April). Am achten Tag jeder Monatshälfte fastete sie und verschenkte Süßes, Reiskuchen, Pudding und duftende Blumen am Tag darauf. Sie schuf ein Bild der Göttin aus Lehm und ehrte es mit vielen Gaben am Ufer der Ganga in Aushadhiprastha. […] So vergingen die 27 Jahre, und im Geiste fest auf die Göttin gerichtet wurde Menaka strahlend und froh. Uma, die große Mutter und Geliebte Shivas, war mit Menas Standhaftigkeit und Hingabe sehr zufrieden. Sie erschien vor Mena in einer himmlisch strahlenden und schimmernden Gestalt, um sie zu segnen. […] Mena verbeugte sich vor der Göttin und antwortete:
O Göttin, ich kann dich schauen direkt vor mir und möchte dich preisen. Sei mir gnädig. Da umarmte die Göttin Mena höchst entzückt, und Mena begann, mit Weisheit und Hingabe die Göttin, die ihr in so schöner Gestalt erschienen war, zu lobpreisen […] .Mena sprach:
Ich verbeuge mich vor der großen Göttin, welche alle Wünsche erfüllt. Ich verbeuge mich vor ihr, welche alle Illusionen erzeugt. Ich verbeuge mich vor der Schöpferin und Erhalterin des Universums. Ich verbeuge mich vor der Göttin der Illusion und der Yogakraft, die zur ewigen Glückseligkeit führt […] .Als ewige Kraft gibst du den Wesen sowohl Beständigkeit als auch Vergänglichkeit. Und wenn es angemessen ist, dann erscheinst du als Frau mit unbeschreiblich yogischen Kräften.Du bist die Ursache der Welten, die ewige Natur, die sogar Brahma, den Schöpfergott, beherrscht. O edle Mutter, sei mir gnädig. Du bist die Macht, die im Feuer schlummert. Du bist die Wärme in den Sonnenstrahlen, und du bist die Kühle im Licht des Mondes. O Göttin, ich verbeuge mich vor dir. Den guten Frauen zeigst du dich als die große Liebe, den Asketen mit Selbstbeherrschung als Ewiges, dem Universum als Begehren und den Göttern als Illusion. Für Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung nimmst du nach Belieben verschiedene Gestalten an und gebierst Brahma, Vishnu und Rudra. O, deine Macht ist unvorstellbar, sei mir gnädig. Verehrung und immer wieder Verehrung dir.
– Aus dem 1. Band des „Shiva-Purana“
Schließlich erklärt sich die Große Göttin bereit, sich in Mena in Form von Parvati zu inkarnieren!
Diese Geschichte zeigt exemplarisch, dass es im Hinduismus keinerlei Widerspruch gibt zwischen visueller Ästhetik und Formgestaltung sowie biologisch-familiären Metaphern einerseits und den abgeklärtesten philosophischen Spekulationen andererseits.
Das kommt aber auch in den Strömungen der Verehrung göttlicher Wesenheiten zum Ausdruck. Denn hier gibt es die große Anhängerschaft des Gottes Vishnu einerseits und die Verehrer des Gottes Shiva andererseits. Diese scheinbare Spaltung stellt etwas Ergänzendes dar, aber daraus entwickeln sich keine Religionskriege, wie in einer westlichen Kultur, in der man nur ein Entweder / Oder kennt.
Religiöses Erleben als soziales Ereignis
Eine weitere Besonderheit des Hinduismus ist das Soziale. Man fühlt sich einer bestimmten Form des Glaubens zugehörig als Teil einer Familie, einer Kaste oder als Bewohner einer Ortschaft. Einen Tempel zu besuchen, bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, mit der man das Ziel einer gemeinsamen Pilgerschaft teilt. Die Menschen, die sich in einer Schlange einreihen, die in die Pforte eines Tempels einmündet, sind gemeinsam erfüllt von der Vorfreude und Erwartung, dem Antlitz der Gottheit zu begegnen.

Aber auch meditative Verinnerlichung ist kein bloss innerseelisch erlebtes individuelles Gefühl, sondern es wird in der Gemeinschaft zelebriert, es wird in gemeinsam begangenen Gebräuchen und Ritualen verwirklicht.
In bestimmten Lebensabschnitten ergeben sich gemeinsame Erfahrungen: zum Beispiel in Initiationsritualen für junge Menschen, die eine ähnliche Bedeutung haben, wie die Konfirmation, Firmung oder Erstkommunion in der westlichen christlichen Welt:


Dieses Gemeinschaftliche kann sich ergeben aus dem Familiären: An den Orten der Wallfahrt begegnet man Kindern, deren Geschwistern, ihren Eltern und Großeltern.


Unmittelbarkeit – Das Göttliche zum Greifen nah
Betritt man als Hindu den Tempel einer Gottheit, so streckt man erst einmal den Arm aus, um nach einer Glocke zu greifen. Ihr Erklingen signalisiert der Gottheit, dass man sich ihr nähert und sie um etwas bitten wird.


In einem Heiligtum des Gottes Shiva findet man sein Reittier, den Stier Nandi vor. Die Gläubigen flüstern ihm einen Wunsch ins Ohr und bitten ihn gleichzeitig, Shiva diese Botschaft zu überbringen:

Hier befindet sich dieser kleine Stier direkt vor einem Idol des Gottes, einem Lingam. Dabei handelt es sich um einen aufrecht stehenden Stein, der eine kosmische Lichtsäule symbolisiert, in der sich Shiva in Urtagen offenbart hat. Das Shiva – Purana schildert, wie Shiva hier angesichts eines Kampfes der Götter Brahma und Vishnu seine Macht erweist:
Doch als er die Kämpfer erspähte, verschwand Shiva vom Firmament. Die Musik verstummte, und der Schlachtenlärm der Geisterscharen erstarb. Brahma und Vishnu hatten ihre großen Waffen entfesselt und erwarteten deren Erfolg. Die Flammen aus den beiden Waffen Maheshvara und Pashupata brannten in den drei Welten und drohten mit vorzeitiger Vernichtung. Doch plötzlich erschien zwischen den beiden Waffen diese unbeschreibbare Gestalt von Shiva, eine riesige Feuersäule. Die Waffen, welche wohl in der Lage waren, das ganze Universum zu vernichten, fielen in die aufflammende Feuersäule und verschwanden. Jeder, der die wundersame Erscheinung sah, fragte sich:
Was bedeutet diese geheimnisvolle Form? Was ist das für eine grellflammende Säule, die sich hier erhoben hat? Die Sinne können sie nicht erfassen.
– Aus dem 1. Band des „Shiva-Purana“
Zur weiteren Erklärung heißt es in diesem Text:
Shiva selbst ist namen- und formlos (Nishkala), denn er ist identisch mit dem Höchsten Brahman. Doch gleichzeitig ist er verkörpert (Sakala). In seinem formlosen Aspekt wird er als Linga verehrt und in seinem verkörperten Aspekt als Bild oder Statue. Seid euch der beiden Aspekte Shivas bewusst, und verehrt sowohl Bild als auch Linga, das Sichtbare und das Unsichtbare.
Werden die Götter nur als Bilder verehrt, dann ist man sich des Höchsten Brahman nicht bewusst, wie es im Linga von Shiva angedeutet wird. Man sieht dann in den Göttern individuelle Seelen oder verkörperte Wesen, und kein formloses Brahman.
– Aus dem 1. Band des „Shiva-Purana“
All das sind demonstrative Beispiele für die Unmittelbarkeit des hinduistischen Kultus und Ritus, nämlich der sinnlichen Anschaulichkeit der Idole, die das Göttliche auch jenseits aller abstrakten Erklärungen im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar machen.
Auch in den Formen der Verehrung spiegelt sich das wider: So werden überall Blumengirlanden aus Tagetesblüten angeboten, mit denen man die Skulpturen der Gottheiten schmückt:




Es ist das Ritual als festgelegte und vertraute Abfolge von Mantren, Gebeten, Opfern, Pflege der Götterbilder und ihrer Domizile, das der hinduistischen Religiosität Kontinuität und historische Beständigkeit verleiht. Diese Praxis des Religiösen erscheint bedeutungsvoller, als theoretische Glaubensvorstellungen.
Viel trägt zu dieser Unmittelbarkeit auch die Präsenz des Heiligen im Alltäglichen bei. So trifft man in Varanasi nicht nur viele kleine, quasi private Heiligtümer an, teilweise „Tempelchen“, die von einer Familie gepflegt und gehütet werden. In den engen Gassen der Altstadt wie zum Beispiel hier zwischen einem Kiosk und einem Textilshop trifft man unvermittelt auf einen Ort der Verehrung.
Lebendige Überlieferung – Wie entsteht Tradition im Hinduismus?
Eine wichtige Grundlage der damit verbundenen Rituale sind Erzählungen von Abenteuern und Schicksalen der Göttinnen und Götter. Zwar gibt es auch so etwas wie eine hinduistische „Theologie“. Aber viel wesentlicher ist der Mythos, der Bericht über das von den Gottheiten Erlebte. Es hat sich in zahlreichen Schriften erhalten, die z.T. viele Tausende von Jahren alt sind. So gibt es zum Beispiel Gebete aus dem mindestens dreitausend Jahre alten Rig-Veda, mit denen hinduistische Gläubige noch heute das Licht eines jeden Neuen Tages begrüßen.
Die Hymnentexte der Veden, Gesetzbücher wie das Manava-Dharma-Shastra (Gesetzbuch des Manu), historische Epen wie das Mahabharata und Ramayana und philosophische Texte wie die Upanishaden oder die Bhagavadgita sind viel umfangreicher, als die Überlieferungen anderer Religionen. Diese literarische Überlieferung umfasst Zehntausende von Seiten. Sie sind überwiegend in Sanskrit verfasst, einer indoeuropäischen Sprache, die mit allen modernen europäischen Sprachen urgeschichtlich verwandt ist.
Steinerne Relikte haben nicht nur Bedeutung für den religiösen Ritus. Sie dienen auch der Rückerinnerung an längst vergangene teils grausame Bräuche, die uns kaum verständlich sind. Dieser Stein beispielsweise erinnert daran, dass sich hier eine Witwe nach dem Tod ihres Mannes verbrennen ließ.
Vielfalt statt Einheitsfront – Die hinduistische Balance zwischen Autorität und Individualismus
Ein weiteres Charakteristikum des Hinduismus ist seine Pluralität, bei der es keine zentralen Instanzen wie zum Beispiel das katholische Papsttum gibt. Neben den brahmanischen Tempelpriestern, die sich dem lokalen Tempelkult mit seinen Opferritualen widmen, gibt es ganze Heerscharen im Lande umherwandernder Mystiker, die keiner hierarchisch vermittelten Autorität unterliegen. Fast könnte man sie als Ausdruck eines anarchischen Elements im Hinduismus bezeichnen, das sich in dem Gott Shiva widerspiegelt: Ein mystischer Outlaw zu sein, der die Regeln sozialer Konformität permanent überschreitet. Im Shiva-Purana wird geschildert, wie Shiva in der Gestalt eines Asketen die Göttin Parvati vorgeblich vor einer Ehe mit ihm warnt, indem er Shivas dunkle Seiten beschreibt:
Ich kenne Shiva durch und durch mit all seinen unvergleichlichen Eigenschaften. Ich sage dir die Wahrheit, also lausche aufmerksam. Der große Herr reitet auf einem Stier, ist mit Asche beschmiert und trägt verfilztes Haar. Er umhüllt sich mit einem Tigerfell und der Haut eines Elefanten. Er hält einen Totenkopf in seiner Hand, während sich Schlangen um seine Glieder winden. Gift hat einen dunklen Fleck an seinem Hals hinterlassen, und er ißt verbotene Nahrung. Seine Augen sind sonderbar, und er ist wahrlich gräßlich. Weder seine Geburt noch seine Abstammung können aufgezeigt werden. Er kennt nicht die Freuden eines Ehemannes und Hausvaters. Er hat zehn Arme, ist überwiegend nackt und wird immer von Gespenstern und Kobolden begleitet. […] Es ist gegen die Konventionen dieser Welt. Du mit Augen wie Lotusblüten und Shiva mit seinen drei Augen? Du mit dem Gesicht des Mondes und Shiva mit seinen fünf Häuptern?
Auf deinem Kopf schimmert seidenweiches Haar, und Shiva kann nur verfilzte Locken aufweisen. Auf deine Glieder gehört Sandelpaste, während sich Shiva mit Asche vom Verbrennungsplatz einreibt. Deine seidenen Kleider und sein strohiges Fell? Deine himmlischen Ornamente und Shivas zischende Schlangen? Die edlen Götter und die wilde Geisterschar?
Der angenehme Klang des Tabor und der seltsame Ton der Damaru Trommel, die feinen Trompeten und sein schreckliches Horn, dein lieblicher Gesang und die Stimme aus seiner rauen Kehle? Deine Perlenketten und seine Kette aus Totenschädeln? Deine duftenden Salben und seine Asche vom Leichenplatz? Deine Schönheit und seine Hässlichkeit passen einfach nicht zusammen. Er hat keinen Wohlstand, sonst müsste er nicht nackt herumlaufen und auf einem Stier reiten. Er hat ja nicht einmal einen Wagen.
– Aus dem 1. Band des „Shiva-Purana“
Die Macht der Göttin – Göttliches in weiblicher Gestalt
Von großer Bedeutung im Hinduismus ist die Verehrung der Göttinnen, die auch als Devi (Sanskrit für Göttin) umschrieben werden. In Europa gibt es ja viele Menschen, die sich anhand alter Überlieferungen an die Göttinnen der Germanen, Kelten oder Griechen zurückerinnern. Aber in Indien ist die kultische Verehrung von Göttinnen gegenwärtig. Millionen von Menschen bitten sie tagtäglich um Schutz und Segen und bringen ihnen Opfergaben dar.
Allerdings ist die europäische Sichtweise dieses Göttinnenkults von einigen Mißverständnissen geprägt, in die man nicht verfallen sollte. Weder ist die Präsenz der Göttinnen Ausdruck feministischen Machtgefühls, noch ist zum Beispiel die Verehrung des Shiva-Lingam Ausdruck einer archaischen Phallusverehrung. Solche Interpretationen sind typische Ausdrucksformen eines westlichen intellektuellen Reduktionismus.
Die Grundvorstellungen einer mythischen Metaphysik besagen vielmehr, dass jede Gottheit, obwohl formlos, transzendent und unerkennbar, eine sinnlich wahrnehmbare männliche und eine entsprechende weibliche Ausdrucksform besitzt. Die weibliche Form (und Göttin) ist jeweils die Shakti (Kraft / Energie) eines männlichen Pendants, so dass ein dialektisches Wechselspiel zwischen Männlichem und Weiblichem stattfindet. Deshalb treten Gottheiten in Paaren auf: Shiva und Parvati, Vishnu und Lakshmi, Brahma und Saraswati. Und die Göttin Kali wird in dem mythischen Text Devi Mahatmya als Shakti aller Götter beschrieben! Der Idee, dass sich das transzendente Eine in vielgestaltiger Form manifestiert, oder aus ihr emaniert, begegnen wir auch in der hellenistischen Gnosis in den Schriften von Nag-Hammadi oder zum Beispiel in den Lehren der Kabbala.
Der Neuplatoniker Plotin sagte darüber:
Und wenn wir die männlichen Gottheiten dem Geist entsprechen lassen und die weiblichen den Seelen, weil ja jedem Geist eine Seele sich gesellt, so würde auch auf diesem Wege wieder Aphrodite sich ergeben als Seele des Zeus […]
Einen schwachen Widerhall einer solchen naturalistischen Metaphysik finden wir noch in der christlichen Trinitätslehre, aber vor allem auch im Marienkult und in der Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena.
Im Hinduismus aber ist die geschlechtsspezifische Verkörperung des Transzendenten gelebte ritualistische Praxis.
Kulturelle Identität und globale Offenheit ergänzen sich!
Mit diesen wenigen Hinweisen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass uns das Studium des indischen Geistes zu bereichern vermag, dass wir vieles aus dieser religiösen Kultur lernen können. Das gilt durchaus auch dann, wenn wir selbst in einer westlichen Tradition verwurzelt sind, ob es sich nun um die Kabbalah, die Hermetik oder die christliche Mystik handelt.
Wir werden nicht Teil der hinduistischen Kultur werden können, das ist aus meiner Sicht illusorisch. Aber wir sollten uns eine offene Wahrnehmung für ihren spirituellen Reichtum bewahren, worin die besondere Chance der neuzeitlichen westlichen Zivilisation und ihrer globalen Erkenntnismöglichkeiten besteht!