Eine Esoterik der Religionen der Welt

Die Beziehung zwischen der äußeren und der inneren Wahrheit einer religiösen Tradition, lässt sich symbolisch ausdrücken im Bild einer Frucht, mit Schale und Kern. Die Schale steht für das äußere Gesetz einer Religion, das alle Gläubigen befolgen sollen. Ihr Kern symbolisiert ihr wahrhaftiges, inneres Wesen, von dem nur wenige wissen.

Nur derjenige kann den wesentlichen Kern einer Religion erkennen, der weiß, wie man ihn erreicht, indem er die äußeren Erscheinungen einer Religion durchdringend zu ihrem Innern gelangt. Wem dies einmal gelungen ist, der zählt zu jenen, die die innere Bedeutung einer Religion von da an zwar verbergen und verschleiern, doch eben dadurch auch schützen.

Und so benimmt es sich mit allen Religionen: Sie bestehen alle aus einem „Äußeren“ (Exoterik) und einem „Inneren“ (Esoterik), und damit also aus offensichtlichen und aus verborgenen Lehren und Riten. Nicht aber gibt es dafür irgendwelche Konventionen. Denn der innere und der äußere Teil einer Religion, ihr Kern und ihre Schale, bleiben ihrer wahrhaftigen Natur gemäß so. Auch wenn ihre Bewahrer, als Priesterschaft die traditionellen Riten ihrer Religion erfüllen, treffen sie trotzdem keine Vorkehrungen, um das Offensichtliche und Verborgene ihrer Religion in irgendeiner Weise zu erhalten. Es existiert an sich, besteht für sich.

Der Geheime Pol

Stellen wir uns nun einmal das Bild eines klassischen Rades vor. Es besteht aus der Felge, seinem äußeren Rand, aus den Speichen und der Nabe. Beweglich sind die Speichen und die Felge, in deren Zentrum aber die leere Nabe unbeweglich auf der ruhenden Achse eines Fahrzeuges ruht. Von solch einem Fahrzeug sprechen auch die Buddhisten, wenn sie es das „Große Fahrzeug“ (Mahayana) oder das „Kleine Fahrzeug“ (Hinayana) nennen.

Denkt man sich nun das Bild einer Radfelge als den liturgischen Jahreskreis einer Weltreligion, so bewegen sich darauf ihre vielen Gläubigen (im Sonnenjahr oder im Mondjahr). Sie nämlich beschreiten den exoterischen Weg im außen Sichtbaren dieser Religion. Gemeinsam bilden sie einen „Strom der Formen“, als der sie dem äußersten Umfang ihrer religiösen Tradition folgen. Dabei verändern sie entsprechend ihre Positionen im Jahreskreis, so wie die Form der Felge eines Rades in seinem Umfang. Doch dabei dreht sich die Form des Rades gleichbleibend, in seiner Nabe, um die an seinem „Innern“ befestigten Achse, worin sich unbeweglich alles still, doch um das wesentliche ihrer Mitte dreht: Den „Geheimen Pol“.

Vielleicht wird das Besagte noch greifbarer in der Vorstellung vom Bild des Querschnitts einer Frucht. Ihre Wirklichkeit im Inneren zu sehen, verhindert ihre Schale die sie umgibt, ihre Hülle. Ihr Inneres, ihren esoterischen Kern aber kann nur erreichen, wer fähig ist diese Schale zu durchdringen, um vorzudringen zur formlosen, jedoch unveränderlichen Wahrheit einer Religion.

Darin nun verbergen die äußeren Formen ihre tieferen Wahrheiten vor den Augen des einfachen Gläubigen. Es sind das die vielfältigen, wechselnden Erscheinungen einer Religion im Außen, die die meisten Gläubigen daran hindern das Wesentliche zu sehen. Und das hält sie auf, hält sie zurück. Und was für sie in Form der Schale offensichtlich ein Hindernis oder eine Einschränkung zu sein scheint, ist für die Eingeweihten stattdessen der Schutz und damit ein Mittel zur Verwirklichung.

Auf dem Inneren Weg

Um nun von diesem Umfang der Exoterik einer Religion zu ihrem esoterischen Zentrum zu gelangen, muss man sich auf einem der „Radien“ jenes symbolischen Rades bewegen. Diese Radien gleichen „schmalen Fußpfaden“, auf denen nur wenige Eingeweihte gehen. Jeder Radius davon aber stellt den direkten Weg einer Inneren Schule dar. Die Freimaurer sprechen von der „Loge“, abgeleitet vom englischen „lodge“, der „Hütte“ oder „Laube“, worin sich die Mitglieder einer Bruderschaft treffen, um darin Grad um Grad ihren Weg der Einweihung zu beschreiten. Die islamischen Mystiker der Sufis nennen es die „Tariqa“ (arabisch طريقة), den „Pfad“ im Sinne einer Methode zur stufenweisen Vervollkommnung ihres Einweihungsweges.

Auf solch einem schmalen Pfad, auf dem ein eingeweihter Gläubiger von Grad zu Grad voranschreitet, von Stufe zu Stufe aufsteigt, erfährt er, wie er die Vielheit der manifesten Formenwelt in sein eigenes Inneres hinein verlässt. Es ist das nämlich die Voraussetzung, um sich der grundsätzlichen Einheit des Göttlichen zu nähern.

Unabhängig vom sozialen Ausgangspunkt dieses Menschen (kommen doch zum Beispiel die Brüder und Schwestern unter den Sufis oder den Freimaurern, doch immer aus allen gesellschaftlichen Schichten, ohne Unterschied), strebt er mit seinesgleichen, man könnte sagen, „zu einem einzigen Pol hin“. Dabei erreicht er irgendwann diesen Pol, dieses geheime Zentrum (symbolisiert in der „Achse des Verborgenen“), um auf diesem Wege die Erfahrung einer wesentlichen „Einfachheit seines Urzustands“ zu finden und danach hin vorzudringen.

Hinter den Äußeren Erscheinungen

Die menschlichen Wesen, die sich in der Mannigfaltigkeit unserer Gegenwart befinden, sind heute eigentlich immer mehr gezwungen, diese Moderne Welt des Außen zu verlassen, da es immer mehr darum gehen sollte, irgendeine Form der Verwirklichung zu erreichen. Das heißt, das diese Menschen sich eines Prinzips, dass hinter den Außenerscheinungen aller Dinge wirkt, immer mehr bewusst werden sollten. Damit nämlich werden sie sehen, wie es in allen Dingen lebendig ist, auch jenseits der äußeren Erscheinungen ihrer liturgischen Bewegungen, innerhalb ihrer institutionellen Bauwerke (Moscheen, Kirchen, Synagogen, Tempel). Denn die Manifestation selbst, ist Alles in Allem nicht mehr als eine Gesamtheit symbolischer Ausdrücke.

Für die Mehrheit der Gläubigen einer Weltreligion, bilden Glaubensriten ein Band, an dem sie sich, im Hang zur Formenwelt, Hand um Hand weitergreifen, Schritt um Schritt vorsichtig nähern, da sie das Licht, des a priori genannten Zentrums, immer noch nicht direkt betrachten können. Auf diesem Weg aber werden sie den Glanz der inneren Wahrheit erahnen können und so eine Teilhabe am allumfassend Heiligen erleben.

Die Innere Linie der Initiation ist vielleicht kürzer. Doch bahnt sie sich gewissermaßen auch entlang eines Steilhangs, auf dem sich der Gläubige seinen Weg durch eine befremdlich wirkende Welt von Unsicherheiten bahnen muss, wo er sich alsbald hinein bewegt in den Schatten von Freund Hain.

Die gewöhnlichen Gläubigen aber bleiben auch dann verbunden mit dem Prinzip des Heiligen, wenn sie weiterhin kein wahrhaftiges Bewusstsein davon haben können – ein Bewusstsein jedoch, das sie gleichzeitig davor bewahrt, in die Irre zu gehen oder sich zu verlieren, in den unzähligen Eindrücken unserer heutigen, modernen Welt.

Ohne das oben erwähnte „Band des Ritus“, das sie immer wieder aufrafft, dem genau festgelegten Weg ihrer Religion zu folgen, würden sie sich niemals dem Zentrum, dem ursprünglichen Kern ihrer Religion nähern können. Ohne dieses Band liefen sie Gefahr, sich auf unbestimmte Zeit von ihm zu entfernen, während die kreisförmige Bewegung sie auf dem Umfang eines Trotts gefangen hielte, in einem mehr oder weniger konstanten Abstand von dem wesentlichen, heilsamen Licht der spirituellen Wahrheit des Göttlichen.

Der Weg der Einweihung

In der Tat könnte unser Bild vom Rad nicht ohne seine Nabe, der Umfang nicht ohne sein Zentrum, die Gemeinschaft aller Gläubigen nicht ohne die Bruderschaft ihres Inneren Pols existieren. Und es ist in Wirklichkeit diese Gemeinschaft, von der dieser innere Geheime Pol ausgeht.

Selbst wenn die Menschenwesen, die mit dem Umfang des symbolischen Rades des Religiösen verbunden bleiben, werden sie sich dabei weder des besagten Zentrums noch dessen Einflussbereiches (der Radien) direkt gewahr. Doch jeder aus diesem Kreis der Gläubigen befindet sich unweigerlich am Ende eines bestimmten Radius, dessen anderes Ende das Zentrum selbst ist. Und dieser Radius ist der Weg der Einweihung.

Die Schale verbirgt, was sich im Inneren befindet. Während derjenige, der diese Schale durchstoßen hat und sich gerade dadurch dieses Radius bewusst geworden ist (des Radius‘ der seiner eigenen Position auf dem Umfang des Rades entspricht), der wird von der unbestimmten Drehung des letzteren befreit werden. So einer muss nur noch dem Radius folgen, um sich zu nähern, dem geheimen Zentrum des Wahrhaftigen.

Der Radius ist eine Schule, wie zum Beispiel eine Freimaurer-Loge, eine Sufi-Tariqa oder eine „Tantra Sangha“ (Geheimgesellschaft im Hinduismus), durch die der suchende Gläubige zur inneren Wahrheit seiner Religion gelangen kann (also zur esoterischen Wahrheit einer Bruderschaft in den drei eben gegebenen Beispielen vom Christentum, Islam, Hinduismus).

Sobald einer die Schale jener Frucht der religiösen Wahrheit durchdrungen hat, befindet er sich im Bereich des Esoterischen. So bildet dieses Durchdringen eine Art Umkehrung, in der der Übergang vom Äußeren zum Inneren besteht. Dabei aber ist sehr wichtig sich darüber im Klaren zu sein, dass das Wahrhaftige dem „Einen“ entspricht, dass sich ganz jenseits einer Unterscheidung zwischen Exoterik und Esoterik befindet.

Dieses Wahrhaftige ist, was die Sufis „Haqiqa“ nennen: Die höchste Stufe, die ein Sufi auf seinem mystischen Pfad, der Tariqa, erreichen kann und der sich im Verborgenen, weit jenseits dessen befindet, was man im Islam die „Scharia“ nennt, im Judentum die „Tora“ sowie im Christentum die „Paulinischen Briefe“.

Die hier besagte Wahrhaftigkeit nun, beinhaltet einen Vergleich und eine Wechselbeziehung. Das heißt, dass das Zentrum als der innerste Teil von allem erscheint, was eine Religion ausmacht. Wenn dieses Zentrum aber erreicht ist, jener Weg der Schule sein Ziel erreichte, kann es keine Frage von außen oder innen mehr geben. Dann nämlich verschwindet jede Unterscheidung von Exoterik und Esoterik, da sich beide Wege in der prinzipiellen Einheit des Wahren aufgelöst haben.

Dann wird einer sich Gott, dem Theos, Allah, JHVH und so weiter, gewahr, als „dem Ersten und dem Letzten“, „dem Äußeren und dem Inneren“, denn nichts von dem, was ist, kann außerhalb von „Ihm“ sein. Und in „Ihm“ allein ist alle Wirklichkeit enthalten. Darin betiteln die eben genannten Namen die unumschränkte Wirklichkeit, die absolute Wahrheit des Einen.

 

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