Die Lehre von der Siebenfältigkeit des Menschen ist alt. Im 19. Jahrhundert kamen Theosophen aber zu dem Schluss, dass das Individuum sein Bewusstsein in diesem Spektrum, je nach Entwicklungsstadium, sogar selbst gestalten kann. Doch das gelänge nur jenen die erkannt hätten, dass Bewusstsein nur die Bilder des Seins enthalten kann und darum das Sein zuerst erfahren werden muss.
Wie aber soll so eine Vergegenwärtigung menschlichen Seins erfolgen?
Diese Frage stellte sich auch Rudolf Steiner, der Begründer der Schule der Anthroposophie. Er suchte nach Möglichkeiten, um aus den Weisheitstraditionen und den esoterischen Wissenschaften einen praktischen Nutzen zu vermitteln. Ihm galt es als unmöglich sich dem wahren menschlichen Sein im Kosmos zu nähern, nur allein durch eine Bewusstwerdung, ohne auch eine praktische Anwendung dafür im Leben zu realisieren.
Die alten Menschheitsfragen nach dem Wesen des Seins, seinem Ursprung und seiner Entwicklung: darauf versuchte Rudolf Steiner Antworten zu geben.
Schon früh war er sich darüber im Klaren, dass die Herangehensweise mancher Philosophen, das Wesen des Seins ergründen zu wollen einfach scheitern musste. Immer nämlich fungiert unser Bewusstsein nur als Spiegelbild der Wirklichkeit. Das Sein ist die einzig wirkliche Realität. Natürlich kann man sagen dass Bewusstsein aus unserem Gehirn hervorgebracht wird. Doch selbst wenn es anders entstünde und man dann auch den Grund dafür wüsste, gäbe es doch letztendlich keine eindeutige Antwort darauf, was Bewusstsein letztendlich ist. Vorausgesetzt aber unser Denken ist eine Gehirntätigkeit, wäre es dennoch schwer herauszufinden wie sich unser Bewusstsein einfügt in die natürliche Ordnung der Welt.
Solchen philosophischen Herausforderungen stellte sich Rudolf Steiner. Durch seinen theosophisch geprägten Hintergrund aber verfügte er über eine universalere Sichtweise, anders als etwa die Philosophen der frühen Aufklärung, wie zum Beispiel Immanuel Kant (1724-1804). Er versuchte nämlich die Welt als kosmische Ganzheit zu erkennen, bevor er Fragen nach dem Bewusstsein eines auf Erden lebenden Menschen stellte. Denn für Steiner befand sich unser gegenwärtiges, menschliches Wachbewusstsein, lediglich auf einer bestimmten Bewusstseinsstufe, die sich erst über sehr lange Zeit zu dem entwickelte, was sie heute ist.
Hier nun kommt der anthroposophische Begriff der Weltentwicklungsstufen ins Spiel. Denn laut Steiner gibt es sieben große Phasen einer Evolutionskette, deren Glieder mit der Entwicklung des planetarischen Kosmos zusammenhängen.
Über den Fortgang der Menschheitsentwicklung
Jede planetarische Entwicklungsphase, wie sie Rudolf Steiner beschrieb, verläuft innerhalb eines besonderen Weltzeitalters. Zuerst verdichtete sich aus einer geistigen die physische Welt, konzentrierte sich als äußere Erscheinung zu dichter Materie. Man kann sagen dass der Begriff der Inkarnation, im Sinne einer Verkörperung, nicht nur für uns Menschen als Einzelwesen gilt, sondern auch für ganze Welten. Laut Rudolf Steiner verkörperte sich auch unser Sonnensystem nach und nach über sieben planetarische Phasen einer kosmischen Entwicklung. Dafür erfand Steiner eigene Name, die er für diese sieben interplanetare Entwicklungsphasen gebrauchte:
- Der »alte Saturn«,
- die »alte Sonne«,
- der »alte Mond«,
- die Erde,
- der »neue Jupiter«,
- die »neue Venus« und
- die letzte Verkörperung unseres Planetensystems nannte er »Vulkan«.
In Visionen will Steiner die Erkenntnis über diese planetarischen Verkörperungen empfangen haben. Wer aber mit diesen Betitelungen zum ersten Mal in Berührung kommt ist vielleicht irritiert. Doch wenn hier die Rede ist vom alten Saturn, so meinte Steiner damit keineswegs den eigentlichen Planeten Saturn. Vielmehr glaubte Steiner in die Ferne Vergangenheit blicken zu können, als sich unser Planetensystem (Sonnensystem) noch in einer gänzlich anderen Entwicklungsphase befand. Es muss hier dazugesagt werden, dass seine Visionen hierzu vielleicht etwas sehr fantastisch anmuten, gleichzeitig aber weiß man aus Erkenntnissen der modernen Kosmologie, dass sich unser Planetensystem, in sehr ferner Vergangenheit, tatsächlich noch in einem ganz anderen Zustand befand als heute. Erst später verdichteten sich die Planeten zu dem was sie heute sind.
Steiners »alter Saturn« bezeichnete also weniger den bekannten Gasplaneten mit den Ringen, der er heute ist. Für ihn bestand dieser Urplanet aus einer gigantischen, glühenden Sphäre, die sich aus dem Bereich der heutigen Sonne bis in die Umlaufbahn des heutigen Saturn erstreckte. Damit war der alte Saturn also weniger ein Planet, als vielmehr eine sphärische Entwicklungsphase unseres Sonnensystems, was jedoch über ungeheuere Ausmaße hinweg geschah.
In obiger Aufzählung (alter Saturn, alte Sonne, alter Mond, Erde, neuer Jupiter, neue Venus und Vulkan) sah Steiner darum keine nebeneinander existierenden Himmelskörper, sondern gleichsam kosmische Perioden aus denen sich unser heutiges Sonnensystem über sehr lange Zeiträume hinweg entfaltete.
All das nun begann, laut Steiner, mit der gigantischen Wärmesphäre des alten Saturn. Die Betitelung dieser planetarischen Entwicklungsstufen, leitete Rudolf Steiner wahrscheinlich ab von den Gottheiten alter Mythologie, nach denen die Planeten unseres Sonnensystems benannt sind. Auch »Vulkan«, über den Steiner schrieb, bezeichnet keinen eigentlichen, bisher unbekannten Planeten, sondern steht, wie bereits angedeutet, für die letzte Phase der Entwicklung unseres Planetensystems in sehr ferner Zukunft.
Künstlerische Darstellung unseres Sonnensystems bevor es seine heutige Form annahm (Quelle: NASA).
Sieben Entwicklungsstufen
Wie gesagt bildeten für Rudolf Steiner die oben aufgelisteten sieben Stufen eine kosmisch-planetarische Evolution. Darüber hinaus aber leitete er aus dieser spirituellen Grundlage auch die Phasen ab, aus der sich jede andere makro- und mikrokosmische Entwicklung ergab.
Wer sich mit der Theosophie Helena P. Blavatskys beschäftigte, dem dürften diese Konzepte teilweise bekannt vorkommen. Nur erweiterte Rudolf Steiner diese siebenfältige Entwicklung des Kosmos, um die eben dargestellten planetarischen Entwicklungsebenen.
Über die Entwicklung und Entfaltung menschlichen Bewusstseins
Für Rudolf Steiner bestand der Mensch schon lange bevor unser heutiges Sonnensystem existierte. Natürlich nicht als das anatomische Wesen, dass wir etwa aus den Beschreibungen der modernen Biologie oder Physiologie kennen. Unabhängig davon hat sich die Definition des Wortes »Mensch« im Laufe der Jahrhunderte ohnehin immer wieder verändert. Steiner meinte vielmehr eine an sich bestehende Form des Bewusstseins, die uns heute lebenden Menschen in anderer Gestalt weitergegeben wurde.
Das Wort »Mensch« aber kommt aus dem sanskritischen »Manushya«, das seiner Bedeutung nach eigentlich die »Menschheit« an sich meint. Gemäß der alten Puranas (wichtigen heiligen Schriften im Hinduismus) steht Manushya für das körperliche Sein in Leid und Leidenschaft, durch das es als Mensch Erkenntnis und schließlich Weisheit erlangt. Menschsein bedeutet also Erfahrungen zu machen, als fleischgewordenes Wesen. Bevor wir Menschen aber mit unseren biologischen Verwandten, den Tieren, auf diesem festen Planeten Erde inkarnierten, gab es lange vor der Existenz unseres Heimatplaneten, in diesem Sonnensystem bereits eine geistig überlegene Absicht, wegen der sich menschliches Sein zuerst als »höheres Bewusstsein« entwickeln sollte, bevor er dereinst in fleischlichen Körpern inkarnierte.
Die erste Phase dieser Entwicklung beschrieb Rudolf Steiner als das Trancebewusstsein. Das existierte schon als sich noch der alte Saturn weit über das Feld unseres heutigen Sonnensystems ausgebreitet hatte. In der Zeit der alten Sonne entstand des Menschen Tiefschlafbewusstsein, was sich in der darauffolgenden Entwicklungsphase des alten Mondes in ein Bilderbewusstsein transformierte. Erst damit entstand zur Zeit der Erdentwicklungsphase ein Wachbewusstsein, mit dem heute jeder von uns ausgestattet ist.
Wenn Steiner nun fortfährt mit dem neuen Jupiter, ist das ein Hinweis auf die gegenwärtige Herausforderung menschlicher Wahrnehmung, wo wir ein psychisches Bewusstsein entwickeln werden, dass sich über das alltägliche Wahrnehmungsbewusstsein im Wachzustand erhebt. Ein überpsychisches Bewusstsein aber wird in ferner Zukunft mit der neuen Venus entstehen und schließlich mit einem spirituellen Allbewusstsein, während der Entwicklungsphase des Vulkan, schließlich zu seiner Vervollkommnung finden.
Die Gestaltung der elementarischen Reiche
Und so wie diese Bewusstseinsentwicklung des Menschen einher geht mit einer Entwicklung auf planetarisch-makrokosmischer Ebene, verkörpert sich immer zugleich auf mikrokosmischer Ebene das was, auf sieben Stufen, etwa auch zur Entwicklung unseres menschlichen Leibes führte:
- Im ersten Elementarreich war die Welt noch formlos, worin jedoch »Gedankenkeime« die Veranlagungen zur Formbildung lieferten.
- Im zweiten Elementarreich wurden Töne und Klänge (Schwingungen) durch die Gesetze der Numerologie geordnet.
- Das dritte Elementarreich war der Ursprung des Feuers und des Lichts (Farben).
- Das Mineralreich bildete dann kristalline Substanzen aus, sowohl in Form chemischer Elemente wie Diamant (Kohlenstoff-Modifikation), Gold, Silber, Schwefel, Silicium, etc., als auch natürlicher Mineralien wie Quarzen, Feldspaten und anderen Kristallen.
- Im Pflanzenreich entstanden daraus alle Lebensformen der Flora.
- Das Tierreich brachte die Lebensformen der Fauna hervor.
- Und schließlich formte sich im Menschenreich die Welt unserer Spezies.
Diese letzte Stufe des Menschseins in der Welt, enthält wiederum eine siebenfältig gegliederte Evolutionskette, worin sich der Mensch in ferner Vergangenheit auf der Erde, aus einem vollkommen geistigen Wesen zu dem heutigen Menschen entwickelte. Doch die Evolution ist damit keineswegs abgeschlossen, sondern wird sich, gemäß anthroposophischer Lehren, noch in höherer Form weiterentwickeln.
Entwicklungsphasen menschlicher Existenz
Auf sieben Ebenen menschlicher Evolution entstanden während verschiedener Zeitabschnitte der Erdentwicklung verschiedene Formen menschlicher Existenz auf unserem Planeten. In der sogenannten Polarischen Zeit lebten die Menschen als noch gänzlich körperlose, astralische Wesen. Das war ein Zustand der gewiss auf etwas hindeutet, worüber vor sehr langer Zeit bereits die Priester des alten Chaldäa hinwiesen. Jener Mensch war noch nicht das, wofür das Wort zu seiner Bezeichnung heute verwendet wird. Doch im theosophischen Gebrauch wird das Konzept vom Menschsein eben viel weiter gefasst, als das, wie es etwa die moderne Biologie in ihrer uns allen bekannten Weise darstellt.
Der Polarischen folgte die Hyperboräische Zeit. Da verdichtete sich der Körper des ursprünglich rein geistigen Menschen, in eine ätherische Form, in einen »Lebensleib« der wie aus Fasern feinster elektrischer Ladungen zusammengesetzt war, jedoch noch ohne Geschlecht war.
In der Lemurischen Zeit begannen die Menschenseelen dann in irdischen Körpern zu inkarnieren, die durch die in vorheriger Zeit gebildeten, ätherischen Körper belebt wurden, doch außerdem mit einer Blutzirkulation ausgestattet waren. Es war jene Entwicklungsphase der Menschen, als sie begannen ihren nächsten Verwandten auf der Erde, den Affen, zu ähneln (vergleiche etwa das lateinische Wort »Lemures«, das eine biologische Teilordnung der Primaten bezeichnet). Allerdings unterschieden sie sich von jenen, wegen ihres aufrechten Ganges. Damals aber verfügten Menschen noch nicht über ein Bewusstsein für Sprache. Man kommunizierte aber bereits durch gegenseitigem Gedankenaustausch.
Dann schließlich, in der Atlantischen Zeit, begannen die Menschen sich miteinander durch Worte zu verständigen. Im Gegensatz zu heute verfügte diese alte Menschenrasse aber noch über ein natürliches Hellsehen. Der Körper war noch weich und knorpelig und der Äther-Körper strahlte noch weit über die Grenzen des physischen Leibes hinaus.
Heute leben wir laut Anthroposophie in der sogenannten Nachatlantischen Zeit (eine Formulierung die Steiner natürlich aus der Theosophie Blavatskys übernommen hatte). Wir Menschen haben jetzt durch die Entwicklung unserer Sprache und unseren vielfältigen Umgang mit der irdischen, materiellen Welt, unsere vorerst dichteste Körperlichkeit entwickelt. Da ist unsere Seele ganz fest von einem Leib umgeben. Ein Bewusstsein für die Existenz einer Seele zu entwickeln, fällt den meisten Menschen darum schwer.
In der zukünftigen, sogenannten »sechsten Wurzelrasse«, werden sich die Geister der Menschen scheiden, in eine gute und eine böse Menschheit, wo, in einem Krieg aller gegen alle, die nachatlantische Epoche, das heißt also unsere jetzige Welt, zu Grunde gehen wird. In der Offenbarung des Johannes (Neues Testament) ist die Rede vom »Sechsten Siegel«, wo der »Himmel auf die Erde stürzt«, laut Steiner sich die Erde wieder mit dem Mond vereinigt und sich die Menschheit aus ihrem körperlichen in einen ätherischen Zustand zurückentwickelt. Hier muss hinzugefügt werden, dass Steiners Sicht auf diesen sechsten Zustand der Menschheitsentwicklung gewiss recht eigen ist, doch, mit seinem Bezug auf die neutestamentarische Offenbarung Johanni, gewiss einen interessanten, vor seiner Zeit nicht dagewesenen Aspekt beleuchtet.
Mit der siebten Wurzelrasse dann soll schließlich auch unsere Welt ein Ende finden, wo nämlich die Erde (wieder) in die Sonne eintritt und sich damit die Existenz irgendgearteter Menschenkörper auflöst.
Wie bereits angedeutet hatte Rudolf Steiner seine ganz eigene Version dieser Entwicklungsstufen und besprach sie auf einer viel weiteren Ebene, als etwa die Moderne Theosophie. Es geht bei ihm auch um den engen Zusammenhang mit dem planetarischen Wandel unseres Sonnensystems, der, wie eben dargestellt, mit der Entwicklung des Menschen eng verwoben ist. Zwar gibt es bei Steiner eine genauere Zeitliche Einordnung, wo bereits im Jahr 7893 n. Chr. der Mond in die Erde eintreten soll, was aus gegenwärtig astronomischer Einschätzung aber wohl gänzlich unsinnig erscheinen dürfte.
Es sollte darum in Steiners System der Menschheitsentwicklung wohl auch ein ausgeprägt symbolischer Faktor mit in Erwägung gezogen werden. Auch die noch feinere zeitliche Gliederung der Menschheit in sieben Kulturepochen (Urindisch, Urpersisch, Äyptisch-Chaldäisch, Griechisch-Lateinisch, Germanisch-Angelsächsisch, Slawisch, Amerikanisch), ist ein intellektuelles Gebilde Rudolf Steiners Anthroposophie, das anscheinend ein Schema liefern sollte für eine chronologische Abfolge kosmischer Entwicklungsstadien, was er auch auf die menschliche Kulturentwicklung übertragen wollte.
Die Wesensglieder des Menschen (Bild: Quelle Anthrowiki, Lizenz CC BY-SA 3.0).
Praktische Anwendung esoterischen Wissens
Es scheint als hätte Rudolf Steiner mit seinen ausführlichen Systemen, wie den eben dargestellten, versucht eine universale Organisationsstruktur für sowohl eine Esoterik des Makrokosmos als auch des Mikrokosmos zu liefern. Und auf solch einem zusammenhängenden Gebilde errichtete er die praktische Anwendung seiner anthroposophischen Lehren, die aber bis heute noch ihren besonderen Zweck wirksam erfüllen. Was das bedeutet, dazu später mehr.
Wenn auch im übertragenen Sinne war für Rudolf Steiner eine gesunde, organische Entwicklung des Menschen nur dann möglich, wenn er in seinen Wunsch, die Welt rein intellektuell-wissenschaftlich zu verstehen, noch die emotionale Ebene, die »Herz-Ebene« integrierte. Nur so würde laut Rudolf Steiner eine Grundlage gegeben, aus der sich eine für die Menschheit positive Zukunft entwickeln kann.
In der Anthroposophie geht es jedoch nicht wie in der Philosophie, allein nur um die geistige Fortentwicklung. Rudolf Steiner versuchte aus dieser Entwicklung außerdem einen praktischen Nutzen abzuleiten, der der Menschheit tatsächlich zu ihrem Wohlbefinden in der Zukunft verhelfen sollte.
Was durch die Arbeit der Theosophischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert vorbereitet wurde, sollte die Praxis der Anthroposophie auch einem praktischen Zweck zuführen. Nur so, glaubte Steiner, wäre esoterisches Wissen tatsächlich für den Einzelnen von Vorteil. Damit allein hätte er die Möglichkeit sich und sein Leben in der Welt frei und unabhängig zu gestalten.
Entwicklung höherer Seelenfähigkeiten
In diesem Streben aber setzte Rudolf Steiner seinen Lesern und Schülern nicht etwa nur Behauptungen vor, die er, einem Seher gleich, in Visionen als absolute Wahrheiten vorsetzte. Eher wollte er seinen Mitmenschen bei der Entwicklung dieser Fähigkeit auch behilflich sein, das heißt Anleitungen liefern, anhand derer esoterisches, inneres Wissen praktisch im äußeren Leben wirksam integriert werden kann.
Er setzte voraus dass jeder Mensch dazu in der Lage sei auch selbst eine »übersinnliche Welterkenntnis« zu entwickeln und damit auch den Grund dafür erkennen, wer er ist und wozu er sein Leben weiterentwickeln muss, damit er dem eigentlichen Seelenauftrag seiner Inkarnation auf Erden gerecht werde. Ein vielleicht etwas überdimensioniertes Ziel, sicher aber mit dem Nebeneffekt manche bereits höher entwickelte Geistesschüler in ihrer spirituellen Entfaltung zu unterstützen.
Ab 1904 begann er seine Lehre ausführlich für seine Leser darzulegen. Steiner setzte dabei voraus, dass jeder Mensch die Fähigkeit besäße, über das normale physiologisch-biologisch veranlagte Sinnesbewusstsein auch »höhere Sinne« zu entwickeln, über die er selbst die Seelenwelt und die Welt der Spiritualität, schauend wahrnehmen und erforschen könne.
Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: wovon dieser spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele, die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln.
– Aus Rudolf Steiners Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«
Eine Anleitung hierzu entwickelte Rudolf Steiner 1905 in seinem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«. In dieser Sammlung anthroposophischer Aufsätze führt er den Leser in praktische Übungen ein, womit ihm die Ausbildung höherer Sinneswerkzeuge gelingen soll.
In einer vorbereitenden Phase soll der Geistesschüler dabei ein Gewahrsein entwickeln, eine Achtsamkeit, für das was um ihn geschieht. In einer weiteren Phase dann soll er das Selbe tun für jene Erscheinungen, die sich ihm aus seiner inneren Seelen- und Gedankenwelt zu erkennen geben. Doch Rudolf Steiner weist auch ausdrücklich darauf hin, dass es nicht darum geht sich endlos in Details zu versenken und dabei dem Wesentlichen verlustig zu gehen.
Zu betonen ist, dass der Geheimforscher sich nicht in ein Nachsinnen verlieren soll, was dieses oder jenes Ding bedeutet. Durch solche Verstandesarbeit bringt er sich nur von dem rechten Wege ab. Er soll frisch, mit gesundem Sinne, mit scharfer Beobachtungsgabe in die Sinnenwelt sehen und dann sich seinen Gefühlen überlassen.
– Aus dem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«
Mit diesen Anleitungen wollte er dem Individuum helfen das Wesen der esoterischen Wissenschaften praktisch zu erfahren. Seine Leser sollten lernen auf ihre Gedanken und Gefühle ebenso zu achten, wie sie das eben intuitiv auch als Kleinkinder taten, als sie die ersten Schritte über den Boden unserer irdischen Welt zum ersten Mal alleine wagten.
So wie der Mensch als Kind die Gesetze der physischen Welt erlernt, so wird der Schüler der Geheimwissenschaft den höheren Welten näher gebracht, um sich darin ebenso frei bewegen zu können, wie sich sein Körper in der physischen Welt zu bewegen vermag.
In seiner Arbeit ging es Rudolf Steiner eben darum, die Menschen an ihr innerstes Wesen heranzuführen, damit sie bemerken, dass in ihnen besondere Veranlagungen schlummern, die sich regelrecht danach sehnen endlich erweckt zu werden. Das sind Teile der menschlichen Existenz als Ganzes, und nicht nur das, wovon die Wissenschaft ausgeht, in ihrer Zweiteilung in Geistiges und Körperliches. Eher erlangt jemand, der die Meisterschaft dieser Entwicklung vollbringt, auch Fähigkeiten höher geartete Anteile seines Seins, wie auch niedrigere Wesensanteile zu erkennen und dann auch aus dieser Bewusstwerdung heraus befähigt in die Welt zu schauen.
Wichtig bei solchen Übungen aber bleibt, eine gewisse Vorsicht einzuhalten. Auch darauf verwies Rudolf Steiner ganz deutlich. Viel zu oft nämlich eröffnen sich dem Anfänger auf dem geistigen Pfad zugleich viele Wege, die ihn dazu verleiten alles auf einmal auf sich einwirken lassen zu wollen. Das die Geheimlehren aber stets nur im Verborgenen besprochen wurden, das hat einen Grund:
Es ist notwendig, dass der Mensch, der Geheimschüler wird, nichts verliere von seinen Eigenschaften als edler, guter und für alles physisch Wirkliche empfänglicher Mensch. Er muss im Gegenteile seine moralische Kraft, seine innere Lauterkeit, seine Beobachtungsgabe während der Geheimschülerschaft fortwährend steigern. Um ein Einzelnes zu erwähnen: Während der elementaren Erleuchtungsübungen muss der Geheimschüler dafür sorgen, dass er sein Mitgefühl für die Menschen- und Tierwelt, seinen Sinn für Schönheit der Natur immerfort vergrößere. Sorgt er nicht dafür, so stumpfen sich jenes Gefühl und dieser Sinn durch solche Übungen fortwährend ab. Das Herz würde hart, der Sinn stumpf. Und das müsste zu gefährlichen Ergebnissen führen.
– Aus dem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«