Hildegard von Bingen - ewigeweisheit.de

Die deutsche Prophetin vom Rupertsberg

Den mystischen Schriften der Hildegard von Bingen wird nachgesagt, das Herz ihrer Leser zu erheben. Man erfahre darin vom geheimen Wesen der Natur, über die Schöpfung und das wahre Wesen Gottes. Sie war eine Universalgelehrte und Seherin, Autorin, Komponistin und Mystikerin, die auf ihre Zeitgenossen großen Einfluss ausübte. Besonders wegen ihrer Heilkunde, ist die Hildegard auch heute noch vielen Menschen bekannt.

1098 wurde die Heilige Hildegard von Bingen in eine wohlhabende Familie geboren und wuchs auf in einem Landgut in der Nähe des rheinhessischen Alzey. Schon als Kind empfing sie Visionen und vernahm in sich, himmlischen Gesang. Doch diese Gesichte und Auditionen, gingen einher mit Schwächeanfällen und Krankheit. Mit niemandem ihrer Familie aber sprach sie darüber. Was sie sah, verheimlichte sie, soweit sie konnte.

Dementsprechend führt Gott, wenn er seinen Geist im Dienst von Prophetie, Weisheit oder Wundern in einen Menschen schickt, dessen Fleisch häufig aber nicht durch Schmerzen bindet, dann wendet es sich leicht weltlichem Wandel zu.

– Aus der Vita

In ihren Audiovisionen wurde sie durch die Krankheiten, die ihr Gott sandte, zur Veröffentlichung der empfangenen Offenbarungen quasi gezwungen, wie Hildegard schrieb. Ihre »Schmerzen« dabei, dienten Gott als Instrument, um Hildegard vor Überheblichkeit zu bewahren. Denn das Durchleiden von Schmerzen und Krankheit, wahrt die nötige Demut, um die göttliche Schau zu vernehmen.

Gott wollte das arme Geschöpf, durch das er diese Schrift ausgegeben, mit dem Öle seiner Barmherzigkeit salben. Denn vom Tag ihrer Geburt ist sie in ein Netz von Schmerzen und Krankheiten verstrickt. Es gefiel jedoch dem Herrn noch nicht, dass sie aufgelöst werde, weil sie durch die Höhle ihrer Vernunft noch manche Geheimnisse schaut. Diese Schauung griff derartig ihre Gesundheit an, dass sie öfter vor Erschöpfung zusammenbrach. Darum ist sie auch in physischen Dingen wie ein Kind. Sie ist abhängig von der Inspiration des Heiligen Geistes, ist seine bestellte Dienerin.

– Aus dem Liber divinorum operum

Je feiner und zarter sich eben ein menschlicher Organismus zusammensetzt, um so leichter und intensiver kann er übernatürliche Anregungen empfangen. Nicht zufällig erfahren wir in der Geschichte der christlichen Mystik davon, dass fast alle auserwählten Seelen, die zu einer außergewöhnlich hohen Empfänglichkeit befähigt waren, schon durch ihre natürlichen, physiologischen Anlagen, dem leisesten Hauch übernatürlicher Einwirkung entsprachen. So konnten sie eben als Heilige, als Propheten Gottes, ihre Zeitgenossen und deren Nachfahren, von den empfangenen Weisheiten kosten lassen.

Das Hildegards Visionen und Auditionen, nichts Angedichtetes gewesen sein können, das belegt ihr außergewöhnliches Werk. Schließlich war sie ja nicht nur Verfasserin heiliger Texte und Gedichte, sondern komponierte einen bis dato nicht gewesenen Kirchengesang. Außerdem erfand sie eine komplett neue Heilkunde. Außergewöhnlich dabei ist, dass sie ihr riesiges Werk schuf, ohne jemals eine umfassende Bildung erfahren zu haben. Weder war sie früh geübt in der Schreibkunst, noch hatte sie eine Ausbildung als Komponistin wahrgenommen.

Wie man aus den Schriften des Zisterziensers Bernhards von Clairvaux erfährt, mit dem sie brieflichen und persönlichen Kontakt pflegte, grenzten Hildegards Begabungen recht an Wunder. Ein Hinweis auf ihre tatsächlich magere literarische Bildung ist, dass in ihren Schriften einfach Zitate fehlen, was wohl belegt, dass sie nie viel gelesen hat. Ihr Wissen ging also eigentlich nicht über das hinaus, was ihre Umgebung wusste. Was sie aber wusste, das erwarb sie in ihren Unterredungen und im Umgang mit den vielen gebildeten Theologen denen sie begegnet war.

Hildegards Erziehung

Bereits im Alter von acht Jahren, übergaben Hildebert und Mechthild von Bingen, ihre Tochter zur religiösen Erziehung an ihre Erzieherin Jutta von Spondheim (1092-1136). Mit zwölf Jahren bezog Hildegard das Benediktinerkloster Disibodenberg, bei Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz). Das Kloster war benannt nach dem irischen Einsiedlermönch, dem Heiligen Disibod, über den Hildegard später eine Biografie verfasste.

Der Heilige Disibod errichtete einst eine Mönchsklause, am Zusammenfluss von Nahe und Glan, auf dem Grund eines alten römischen Jupiter-Tempels. Dort sollte dereinst die 16-jährige Hildegard zur Nonne geweiht werden.

Nach dem Tod ihrer Meisterin Jutta von Spondheim wählten die Nonnen der Frauenklause des benediktinischen Klosters Disibodenberg, die Hildegard von Bingen zu ihrer neuen Meisterin. Doch es schien nicht alleine eine Abstimmung gewesen zu sein, als vielmehr eine göttliche Auserwählung, heißt es doch, dass die Lichtfunken ihres hohen Geistes, ein mystisches Zwielicht über ihre Gestalt ausgoss. Darin erkannten ihre Klosterschwestern den Segen Gottes, der auf der Hildegard ruhte.

Gotterleuchtung

Hildegards ausgeprägten visionären Fähigkeiten, entzündeten ihr Inneres mit dem Licht eines höheren Geistes. Die Menschen ihres Umfelds nahmen das auch wahr. Immer wieder schien sie in ein geheimnisvolles Ringen verstrickt, mit dem Geist Gottes. Weniger aber waren ihre mystischen Gesichte Kämpfe, als eher ein von innen her drängendes Vermächtnis, einer eigentlich noch höheren Aufgabe. Auf kurz oder lang nämlich, sollte in ihrem Wirken sich etwas entfalten, was schon ewig auf sein Erblühen wartete.

Als sie selbst noch ihrer Meisterin Jutta von Spondheim diente, hielt sie ihre visionäre Begabung zurück, vollkommen bescheiden und in ängstlicher Bemühung. Doch nun selbst zur neuen Meisterin ernannt, ereignete sich etwas, wodurch ihr anscheinend Prophetenrecht erteilt wurde. Im Alter von 42 Jahren, auf der Höhe ihres Lebens, erschien ihr ein himmlisches Licht, woraus eine Stimme zu ihr sprach:

Oh du gebrechliches Geschöpf, Staub von Staub, Asche von Asche, sprich und schreibe nicht nach menschlicher Rede, nicht nach menschlicher Einsicht, nicht nach menschlicher Darstellungsweise, sondern so, wie du es in Gott vernimmst, so wie der Schäler die Worte des Lehrers wiedergibt.

– Aus Scivias

Das Licht, das sie in diesem Moment durchflutete, glich einer Flammenzunge, die zwar nicht brannte, sie aber wärmte, wie die Strahlen der Sonne, die im Frühling die Natur zum Leben erweckt. In dieser Vision verspürte sie ihr Inneres erhellen, in einer solch wunderbaren Klarheit, dass sich ihr darin die höchsten Mysterien des Himmlischen offenbarten. Nicht etwa war das, was sie darin sah eine traumartige Einbildung und auch kein Produkt ihrer Phantasie, sondern ein seelischer Vorgang, der sich unabhängig von Gedanken und Sinneswahrnehmung vollzog.

In einem Brief an den Mönch Wibert von Gembloux (1125-1213), schrieb Hildegard über diese Erfahrung Folgendes:

Wie der Spiegel, der alles reflektiert, in einen Rahmen gefasst wird, so hat Gott die menschliche Vernunft in den Rahmen des Körpers eingeschlossen. Durch sie schaut der Mensch die Geheimnisse Gottes wie in einem Spiegel […] Von meiner Kindheit bis zu dieser Stunde, da ich über siebzig Jahre zähle, gewahre ich ununterbrochen jenes Licht in meinem Innersten. In diesem Licht erhebt sich meine Seele auf Gottes Geheiß zur Höhe des Himmels, in die Lüfte und zu den Wolken, zu den entferntesten Orten und ihren Bewohnern. Ich sehe alles bis ins Kleinste. Aber ich vernehme es nicht durch die fünf Sinne meines Körpers, ich erreiche es nicht durch intensive Gedankenarbeit, sondern alles steht klar vor meinem Geiste. Meine Augen sind offen, keine Ekstase umfängt mich. Ich schaue es Tag und Nacht, wachend und träumend, aber oft todkrank und sterbensmatt.

Das Licht, welches ich erblicke, ist an keinen Raum gebunden. Aber es ist heller als die Wolke, welche die Sonne trägt. Es hat weder Länge noch Breite noch Tiefe. Ich nenne es den ‚Schatten des lebendigen Lichtes‘. Wie Sonne, Mond und Sterne sich im Wasser spiegeln, so spiegelt sich in ihm Schrift und Wort, Tun und Lassen der Menschen. Was ich in diesem Lichte schaue, verstehe ich sofort und behalte es lange Zeit. Was ich aber nicht in diesem Lichte erkenne, bleibt mir fremd, da ich keine gelehrte Bildung besitze. Was ich in diesem Lichte sehe, höre oder schreibe, bringe ich in formlosen lateinischen Worten vor, so wie ich sie in der Vision vernehme. Ich schreibe nicht wie die Philosophen, meine Worte erklingen nicht wie die menschliche Stimme. Sie gleichen stattdessen einer zuckenden Flamme, einer Wolke die in klarer Luft schwebt.

Die Gestalt des Lichtes, umfasse ich so wenig, als ich die Sonnenkugel mit meiner Hand umspannen kann. Manchmal, jedoch nicht häufig, sehe ich in der Lichtwolke ein anderes helleres Licht, dass ich das ‚lebendige Licht‘ nenne. Wann und wie ich es sehe, vermag ich nicht zu beschreiben. Aber wenn ich es schaue, dann entschwindet mir jede Trauer und jede Not. Dann fühle ich mich wieder jung und vergesse, dass ich eine alte Frau bin.

– Aus den Schriften der Hildegard von Bingen, herausgegeben von Jean-Baptiste Pitra

Von der Nonnenklause zum eigenen Kloster

Wegen Hildegards ungewöhnlichem Charisma, drängten immer mehr neue, adlige Jungfrauen in die Nonnenklause auf dem Disibodenberg. Von Jahr zu Jahr wurde die Unterkunft enger. Auch Umbauten und Erweiterungen der Klostergehöfte durch die Benediktiner, sollten nicht mehr ausreichen. Nur ärmlich erschien das Frauenklösterlein neben den Wohnstätten der Mönche.

Die Heilige Hildegard war aber von weit größerer Bedeutung, mehr als nur die Spitze eines Anhangs auf dem Kloster Disibodenberg. So beratschlagten die Nonnen über eine Verlegung des Klosters. Schließlich leuchtete der Hildegard in einer Vision, der Ort ihrer zukünftigen Heimat auf. Ehe aber die Meisterin ihren geistlichen Töchtern den Ort offenbarte, traf sie eine schwere Krankheit. Sie verlor ihr Augenlicht und verfiel in einen Zustand der Lähmung! Kaum aber hatte sie den Schwestern ihre Vision verkündet, konnte sie wieder sehen und die Lähmungserscheinungen lösten sich allmählich auf. Als Ort war ihr der Rupertsberg verheißen worden, an der Flussmündung der Nahe in den Rhein.

Hier sollte die Gründung ihres Frauenklosters Gestalt annehmen. Nach Hildegards Vorstellungen, wurde das Kloster dort gemäß eines Idealplans gebaut. Wegen seiner besonderen Bauweise, seiner Arbeits- und Wohnräume und dem fließenden Wasser, das dort zur Verfügung stand, war das Kloster Rupertsberg weit über seine Grenzen hinaus bekannt.

Klosterruine Rupertsberg - ewigeweisheit.de

Klosterruine Rupertsberg – Gemälde von Carl Woog

Politik einer Asketin

Grundsätzlich kann man in Hildegards Nachwirken erkennen, dass sie nicht allein durch ihr Sendungsbewusstsein die Geschicke der Kirche beeinflusste, sondern auch durch ihre gekonnte Selbstinszenierung – wie sonst auch hätten Kleriker, Bischöfe und sogar Päpste über sie gesprochen?

Doch auch wenn sie ihre persönlichen, spirituellen Erfahrungen von Gott empfing, bezog sie diese keineswegs nur auf sich selbst, noch behielt sie sie einfach nur für sich. Eher fühlte sie sich, ihrer Empfindung nach dazu berufen, ihre Mission an andere Menschen zu übermitteln und sie damit zu einem besseren Leben zu führen.

Doch wie auch ihr Zeitgenosse Bernhard von Clairvaux, ermahnte sie im 10. Jahrhundert den Klerus Verantwortung zu übernehmen, beim Kampf gegen die Sekte der Katharer. Auch hier wird deutlich, wie lang der Schatten der katholischen Kirche, seine Furchen in die damalige gnostische Bewegung Südfrankreichs riss. War es die Angst vor einem Machtverlust, dass die katholischen Kleriker dazu brachte, die in Europa so rasch wachsende katharische Bewegung ausrotten zu wollen? Oder waren hier noch subtilere Einflüsse zu Gange?

Die asketische Lebensweise der Katharer, die eigentlich dem Mönch- und Nonnentum sehr ähnelte, unterschied sich jedoch, durch einen Glauben wo Körper und Geist synonym begriffen wurden, als Manifestationen des Bösen zum Einen und des Göttlichen zum Anderen. So interpretierte man im Katharerglauben, oberflächlich betrachtet, als Böses auch die Schöpfung des menschlichen Leibes. In einem Dualismus dieser katharischen Theologie, wurzelte darum eine Ablehnung der Ehe und damit natürlich der Fortpflanzung. Die »Weltflucht der Katharer« stand entgegen dem Glauben, dass Jesu Christi in fleischlicher Menschwerdung, als Sohn Gottes auf Erden erschien.

Da die Katharer aber in so kurzer Zeit erheblichen Einfluss in Europa gewannen, wurden sie zur echten Gefahr für die Kirche. Es wurden also Gegenmaßnahmen eingeleitet und man bat die Hildegard von Bingen um Rat. Man verlangte von ihr sogar, den häretischen Katharismus auf ihren Predigtreisen anzuprangern, leugneten die Katharer doch die wichtigsten Dogmen des katholischen Christentums. Im 11. und 12. Jahrhundert schien sich in der damaligen, alten Welt, eine wesentliche Neuordnung zu vollziehen. Wer als Christ eine neue spirituelle Strömung in den Lauf der christlichen Geschichte einführen wollte, was für Hildegard von Bingen ja zutraf, der sah sich anscheinend gezwungen, allen anderen Glaubensbewegungen Einhalt zu gebieten, um die Ekklesia, die christliche Gemeinschaft, nach eigenen Vorstellungen zu formen und einen ganz eindeutigen Weg zu Gott zur Verfügung zu stellen.

Schwierig aus heutiger Sicht einzuordnen, was diese alten Vorstellungen von rechtem und unrechtem Gottesglauben prägte. Im Hochmittelalter wussten nur die Eingeweihten von anderen Völkern und Kulturen. So stand es einfach außer Frage, welche Lehren sich aus Weisheiten ziehen ließen, die einst jenseits der Grenzen des damals bekannten Morgenlands entstanden waren. Man wusste nicht von einer persischen Hochkultur, die damals der europäischen bei Weitem überlegen war.

Das war die Zeit, wo eben genau wegen des hohen Selbstbildes christlicher Heiliger, wie Hildegard von Bingen oder Bernhard von Clairvaux, man überhaupt erst jene Brücken baute, über die neues Wissen aus dem Orient nach Europa kommen und das hiesige Geistesdenken beflügeln sollte. Was in dieser Zeit des Übergangs jedoch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, mit diesem Bestreben einher ging, das steht auf einem anderen Blatt. Denn es ist klar, dass diese Vorgänge grausames Blutvergießen begleitete: die Kreuzzüge. In Westeuropa hinterließ das, aus heutiger Sicht betrachtet, bei immer mehr Menschen darum nichts als nur Zweifel oder sogar Abscheu, gegenüber der Institution Katholische Kirche.

Mystische Schriften

Es bleibt aber unbestritten, dass in den monastischen Schriften der Heiligen Hildegard, sich wahre Weisheit finden lässt. Ganz und gar noch unabhängig von orientalischem Einfluss, entfachten sie eine regelrechte Euphorie, im Kreise ihres Wirkens.

Im Alter von 43 Jahren, begann Hildegards literarisches Schaffen. Worüber sie schrieb, waren die in ihren Visionen empfangenen mystischen Erfahrungen. In Offenbarungen habe Gott sie beauftragt, ihre durch Vision und Audition empfangenen Eingebungen aufzuschreiben.

Voller Furcht und zitternd vor gespannter Aufmerksamkeit, blickte ich gebannt auf ein himmlisches Gesicht. Da sah ich plötzlich einen überhellen Glanz aus dem mir eine Stimme vom Himmel zurief: ‚Du hinfälliger Mensch, du Asche, du Fäulnis von Fäulnis, sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Doch weil du furchtsam bis zum Reden, in deiner Einfalt die Offenbarung nicht auslegen kannst, und zu ungelehrt bist zum Schreiben, rede und schreibe darüber nicht nach Menschenart, nicht aus verstandesmäßiger menschlicher Erfindung heraus, oder in eigenwilliger menschlicher Gestaltung, sondern so, wie du es in himmlischen Wirklichkeiten in den Wundertaten Gottes siehst und hörst.‘

– Aus Scivias

Die Heilige Hildegard war sehr bescheiden, verwies sie doch selbst immer wieder auf ihre fehlende Bildung und ihre schwächliche körperliche Konstitution. Ihre Weiblichkeit erschien ihr als Grund, sich stets selbst demütig erniedrigen zu wollen. Nur so nämlich glaubte sie dem allmächtigen Gott empfänglich dienen zu können.

Ihre visionären Offenbarungen, zeigten sich der Hildegard als »lebendiges Licht« (lat. lux uiuens), woraus ihr einer zurief – für sie, die Stimme Gottes. Was sie da vernahm schrieb sie nieder, woraus ihr erstes Werk entstand: »Sci vias Domini«, kurz »Scivias« – das Buch der Visionen. Sie verfasste es als Zeugnis ihrer von Gott eingegebenen Visionen, der den Gläubigen als geistlicher Wegweiser dienen sollte.

Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. Es verbrannte nicht, war aber heiß, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen. Und plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung […]

– Aus Scivias

Da die Heilige Hildegard nun aber keine höhere Bildung besaß und ein, wollen wir sagen, »einfaches Gemüt«, schien sie diese »himmlische Stimme«, eben gerade deshalb auch auserwählt zu haben. Denn als Wort Gottes, konnte es sich nur in seiner vollen Reinheit offenbaren. Eine umfassende Bildung zu besitzen, geht wohl immer einher mit einer gewissen Voreingenommenheit, die einer »Prophetin«, wie man die Heilige Hildegard nennt, wohl eher geschadet hätte.

Das »feurige Licht«, über das Hildegard im Buch Scivias schreibt, ließ sie anschließend die vernommene Offenbarung verstehen, ohne dass sie sich das Verständnis hätte erschließen müssen, wie etwa durch die Bearbeitung der Texte. Der Sinn Gottes, hinter der »fleischlichen Sichtbarkeit« der Dinge, wurde von ihr durch »Hören und Sehen« erfasst. Ohne Auslegung der Verse der Heiligen Schrift, vermochte sie deren Bedeutung intuitiv zu erfassen.

In ihren Auditionen und Visionen aber, war sie stets bei klarem Verstand, das heißt, sie empfing die Offenbarungen nicht während eines »Anfalls«, in Trance oder in Ohnmacht. Was sie während ihrer »Gesichte« vernahm, erfolgte nicht in Form einer geistigen Entrückung. Sie fühlte sich vielmehr wachbewusst, ganz in den Dienst Gottes gestellt. Als sein Instrument, gab sie eben nur seine Offenbarungen prophetisch wieder.

Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser - ewigeweisheit.de

Aus dem Scivias-Codex (um 1165): Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser.

Adam und Eva als Wesen vollkommener Liebe

Im Mittelalter verstand man die Welt als Realität eines Mikrokosmos und Makrokosmos. In dieser Welt lebte der Mensch mit Leib und Seele, und stand in Verantwortung gegenüber der Gemeine, der Natur und dem was an Gottes Gnade ihm zu Gute kam.

Hildegard galten Adam und Eva als Wesen, die in vollkommenster Liebe füreinander und gleichberechtigt zusammenlebten und sich auf diese Weise auch vereinigten, ohne sich dabei durch rein körperliche Begierden zu »beschmutzen«. Vielmehr ging es ihnen um ihre Lebensentfaltung, die durch den andersgeschlechtlichen Partner überhaupt erst ermöglicht wurde. Denn als Mann und Frau, bildeten sie als erste Menschen, das Werk Gottes auf Erden. So hatte im Paradies ein Ideal geschlechtlichen Zusammenseins geherrscht.

Mann und Frau sind auf eine solche Weise miteinander vermischt, dass einer das Werk des anderen ist. Ohne die Frau könnte der Mann nicht Mann heißen, ohne Mann könnte die Frau nicht Frau genannt werden.

– Aus dem Liber divinorum operum

Doch schließlich wurde Eva durch den Teufel betrogen und damit von ihr die Sünde empfangen. Adam hatte ihr wie ein kleiner Junge vertraut und ebenfalls vom verbotenen Apfel gekostet. Damit war die Sünde auch auf die Fortpflanzung der ersten Menschen übergegangen. Hier sah Hildegard die grundsätzliche Last, die damit dem Menschengeschlecht aufgebürdet wurde.

So wie die Schlange des Teufels, die Eva verführte vom Baum der Erkenntnis zu schmausen, so war der Mensch von da an stets darauf aus nach Gründen zu suchen, seine Geilheit und sexuelle Lust anzuschirren. Denn der Teufel verleitete sie zur Befriedigung dieser Begierden. So waren Mann und Frau nicht mehr in vollkommener Liebe (Minne) verbunden, sondern brachen die Ehe und vereinigten sich geschlechtlich, nur zur reiner Lustausübung.

Doch darf der Mann vor den Jahren seiner Manneskraft seinen Samen nicht in unnützer Ausschweifung vergeuden. Es ist nämlich eine vom Teufel eingegebene Versuchung zur Sünde, wenn er in wollüstiger Begierde versucht, Samen auszustreuen, bevor dieser, Kraft seiner Glut und Hitze, in festerem Zustand vorhanden sein kann.

– Aus Scivias

Von Generation zu Generation und von Mensch zu Mensch, wurde diese »sündhafte Beschmutzung« weitergegeben.

Wer nun aber durch das Wort Christi seine reinigende Kraft empfange, dem böte sich Aussicht auf Reinigung von den Befleckungen des paradiesischen Sündenfalls und damit die Erlangung der Jungfräulichkeit all jener, die ihr Fleisch gereinigt haben. Denn durch Mariens jungfräuliche Empfängnis des göttlichen Wortes, statt durch männlichen Samen, war das Fleisch ihres Kindes unbefleckt und ebenso jungfräulich.

Emanzipation des Weiblichen

Augustinus von Hippo (354-430), lateinischer Kirchenlehrer der Spätantike, beschränkte die Möglichkeit weiblicher Selbstverwirklichung auf die Jungfräulichkeit, die Ehe und die Witwenschaft. In Mutter Maria sah Augustinus zwar die Vollendung des frommen Frauentypus, doch erscheint sie nie als eigenständige Persönlichkeit. Stets erfüllt sie das Leitbild einer dienenden Ehefrau und Mutter, was sie immer nur in Beziehung zu einem männlichen Partner befolgte: als jungfräuliche Gebärerin Jesu und untergeordnete Gattin Josefs. Weibliche Sexualität aber, war für Augustinus immer an die Sünde Evas geknüpft. Man warf ihm darum später vor, mitverantwortlich zu sein, für die Jahrhunderte anhaltende männliche Dominanz im christlichen Kulturkreis.

Auch wenn Hildegard von Bingen unter dem Einfluss der Moralvorstellungen des Augustinus stand, schien sie seiner eher frauenfeindlichen Tendenz entgegengewirkt zu haben. Sie rückte den weiblichen Körper in ein positiveres Licht, indem sie Evas Weiblichkeit in ein völlig neues Verhältnis zur Jungfräulichkeit Mariens stellte.

Hildegard sprach nicht Eva die Schuld dafür zu, dass das menschliche Fleisch durch den Sündenfall beschmutzt worden sei. Es war des Teufels List, durch die Eva betrogen, gegenüber Gott in Ungehorsam fiel. Sie stellte Maria und Eva nicht mehr einander entgegen, sondern sah Eva als in Maria enthalten, waren doch beide Urtypus der Mutterschaft: Eva als Mutter des Menschengeschlechts und Maria als Mutter des Erlösers des Menschengeschlechts.

Ein makelloser Spiegel Gottes

Für Hildegard wurde Eva von Gott erschaffen, als Spiegelgestalt, in der das gesamte Menschengeschlecht bereits latent vorhanden war. In Eva wurde es bereits vorbereitend versammelt. Dieses Attribut des göttlichen Spiegels, deutet ihre göttliche Zugewandtheit an. Inbegriff dieser Symbolik natürlich ist die Maria, als Spiegel der Jungfräulichkeit, für das göttliche Licht empfänglich.

Hildegard knüpfte nun an die Vorstellung der Empfänglichkeit Evas (irdisch) und Marias (himmlisch) eine dritte Form der Empfängnisbereitschaft: die Ekklesia – die Gemeinde der Gläubigen. Wenn sich nämlich die Menschen, als ebenso gereinigter Spiegel und in christlicher Gemeinschaft, als scheinbarer Mutterschoß dem Heiligen Geist hin öffnen, ließe sich ebenso in ihnen das Werk Gottes verwirklichen.

In ihrer Scivias stellte Hildegard die Ekklesia darum als riesengroße Frauengestalt dar. Doch weder hatte diese Beine noch Füße. Sie stand auf ihrem Rumpf vor dem Angesicht Gottes:

Ihr Leib war wie ein Netz von vielen Öffnungen durchbohrt, durch die eine große Menge Menschen ausgingen und eingingen. […] Und die Gestalt breitete ihren Glanz aus wie ein Gewand und sprach: ‚Ich muss empfangen und gebären.‘

– Aus dem Scivias

Durch die Taufe werden die Mitglieder der Gemeinschaft der Kirchengemeinde gereinigt und so auf die Jungfräulichkeit der Ekklesia vorbereitet. Die Aussage »Ich muss empfangen und gebären« verweist auf die Verbundenheit der Ekklesia zur Mutter Erde, wo die Kirche als lebendige Erde, fruchtbar und trächtig neue Gläubige hervorbringen kann.

Dafür stand bei Hildegard als Symbol der Mond. Denn sein Licht existiert nur durch das Licht der Sonne, für die im christlichen Glauben, die Erscheinung Christi steht. Seit uralter Zeit war der symbolische Mond daher Inbegriff des Vermittlers zwischen Himmlisch-Göttlichem (Sonne) und Irdisch-Weltlichem (Erde), da er das Licht von der Sonne empfangend, an die Erde weitergibt. Diese kosmischen Prinzipien, lassen sich ebenso übertragen auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, Adam und Eva, Christus und Kirche. So wie der Mond das Wasser der Erde lenkt, galt Hildegard die Kirche als Wasserspenderin und Mutter allen spirituellen Lebens, Mittlerin zwischen dem Licht Gottes und dem Individuum.

Das Wesen der Sonne nun, ist zu stark für den Einzelnen, denn wer sie direkt anblickt wird geblendet. Doch der Mond, als Spiegel und Mittler des Lichts der Sonne, kann betrachtet und »genossen« werden. Auf diese Weise mildere auch die Kirche die gleißenden Strahlen des Göttlichen, wenn sie diese als jungfräuliche Braut aufnimmt und zu den Gläubigen bringt. Durch den Ritus der Taufe nun, wird damit auch der Kirche, die Kraft des Gebärens gleichnishaft verliehen. Als geistige Mutter nämlich, verbindet sie sich mit Eva und Maria, als ihre symbolische Nachfahrin.

Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit - ewigeweisheit.de

Aus dem Scivias-Codex (um 1165): Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit.

Flüssiges Licht

Das Titelbild dieses Essays (siehe ganz oben) ist eine Miniatur aus dem »Liber divinorum operum« – Hildegards visionärer Schriftsammlung, »Buch der göttlichen Werke«. Darin sieht man in der Mitte Hildegard in der Situation des Empfangens einer Audiovision. Das von oben kommende, »flüssige Licht«, wie sie es nannte, manifestierte sich als Bild ihrer Vision in ihrem Körper, dass sie dann auf einer Wachstafel in Händen niederschrieb.

Neben ihr befindet sich die Nonne Richardis von Stade, zu der Hildegard ein besonders inniges Verhältnis hatte. Sie war die Augenzeugin Hildegards visionärer Momente. Was Hildegard aber auf ihrer Wachstafel aufzeichnete, wurde von dem Mönch Volmar auf Pergament schriftlich festgehalten. Nicht aber war ihr der Mönch übergeordnet, oder ließ seine eigenen Erkenntnisse oder Gedanken in die Niederschrift mit einfließen. Hildegard blieb alleinige Autorin aller ihrer Werke. Sie war die Lehrerin Volmars, der als ihr Sekretär fungierte und ihr half, den Schriftkorpus ihrer Visionen niederzuschreiben. Die Miniaturen in den Schriften der Hildegard von Bingen, sollten an ihre Offenbarungen erinnern und dem Leser als Inspirationsquelle dienen.

In seiner Hildegard-Biografie, der Vita S. Hildegardis virginis (Leben der Heiligen Jungfrau Hildegard) schrieb Theoderich von Echternacht:

Großartig ist auch dies und bewundernswert, dass sie das, was sie im Geist gehört und gesehen hat, in derselben Bedeutung und mit denselben Worten besinnen und klaren Sinnes eigenhändig schrieb und mündlich mitteilte, wobei sie mit einem einzigen zuverlässigen Mann als eingeweihtem Mitarbeiter zufrieden war, der es wagte, um Dienst der Klarheit der grammatischen Struktur, von der er selbst nichts verstand, Kasus (grammatischer Fall), Tempora (grammatische Zeitform) und Genera (grammatische Geschlechter) in Ordnung bringen, ohne aber ihrer Bedeutung ihrem Verständnis etwas hinzuzufügen oder fortzunehmen.

»Wisse die Wege des Herrn«

Wie Hildegard in ihrem Scivias andeutet, drängte sie Gott in 26 Visionen zum Schreiben. Daraus wurde noch zu ihren Lebzeiten im Kloster Rupertsberg eine Handschrift hergestellt, die wohl zu den schönsten Kodizes des 12. Jahrhunderts gehört.

Beschreibungen ihrer Visionen über Gott, die Engel, den Urzustand der Welt, Fall und Erlösung des Menschen, die Seele in ihren Kämpfen, Kirche, Eucharistie, Antichrist und Weltende, »reihen sich wie Perlen verschiedener Größe auf den Rosenkranz des Scivias«. So formulierte es der christliche Historiker Johannes May, in seiner 1911 erschienenen Hildegard-Biografie.

Als Wegweiser, lässt der Scivias inhaltlich keine Widersprüche zu. Darum beanspruchte Hildegard für sich, dass ihre göttlichen Visionen, konkrete Wahrheiten sind. Nicht mehr schüchtern wie einst, sondern mit einer gewissen Autorität, sprach sie von ihren Visionen:

  • Der Sohn ruht im Herzen des Vaters.
  • Ihn schmücken die sieben Gaben des Heiligen Geistes.
  • Er verkörpert die menschliche Schönheit.
  • Die Empfängnis des Menschen gilt als Schuld.
  • Durch die fünf Wunden Christi sind die fünf Sinne des Menschen geheiligt.
  • Maria heißt Morgenröte, da sie das lichterfüllte Blut des Erlösers in ihrem Schoße barg.

Doch außer diesen konkreten Einzelheiten, die wohl insbesondere für ihre monastischen und klerikalen Mitbrüder und Mitschwestern von Bedeutung gewesen sein dürften, besaß der Scivias Bedeutung als Wegweiser. Das galt auch für viele ihrer anderen Zeitgenossen, denn schon früh wurden Hildegards Visionen aus dem Scivias durch Abschriften verbreitet.

Ihre Visionen empfing sie, wie zuvor beschrieben, durch Belehrungen des »Lebendigen Lichts«. Diese lichthaften, inneren Erscheinungen, hatten sie Zeit ihres Wirkens nicht verlassen.

Dann sah ich ein außergewöhnlich helles Licht und in dem Licht die Gestalt eines Menschen, der die Farben eines Saphir besaß, aus dem herrlich brennendes, rotes Feuer strahlte. Und das helle Licht durchflutete all das rote Feuer und das rote Feuer, durch all das helle Licht und das helle Licht, sah man zusammen in der Gestalt des Menschen, so dass sie ein Licht mit einer Macht und Stärke waren. Und da sprach wieder das Lebendige Licht zu mir.

– Aus Scivias

Dieses »Lebendige Licht« natürlich, signalisiert das Göttliche. Und wenn von einem farbig leuchtenden Saphir die Rede war, so ist das de facto eine Metapher für den gottgesandten Christus. Die Röte jenes Lichts, das von ihm ausgeht, steht für das Feuer des Heiligen Geistes, durch den Maria jungfräulich empfangen, den »Sohn Gottes« Jesus Christus gebar.

Die sich gegenseitig durchflutenden Lichter und das rote Feuer, die eins sind, stehen für die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist in Gott, als Einheit vollkommener Majestät.

Im Scivias schreibt Hildegard, wie sich ihr der Sinn hinter dem Geheimnis Gottes offenbarte. Damit ein Mensch versteht, worin die Vollkommenheit Gottes bestehe, bleibt der Ursprung Gottes im Verborgenen, was allerding auch bedeutet, dass es darin an nichts mangelt. Damit lassen sich alle nur erdenklichen Ströme geistiger Kraft empfangen. Wäre Gott nämlich nicht vollkommen, wäre wohl auch alles Geschaffene umsonst. In diesem Ideal des göttlichen Werkes, erkannte Hildegard den Erschaffer allen Seins.

Nonne und Heilige

Weltliches und Himmlisches waren für Hildegard keine Gegensätze. Wohl eben darum wusste sie das lichthafte Wirken Gottes zu erkennen, in allem Lebendigen, im Kosmos, in der Natur und im Menschen. Darum wohl gelang ihr als Dichterin, Komponistin und eine der bedeutendsten Universalgelehrten des Hochmittelalters, vielen Menschen die heilsame Kraft des Göttlichen zuzuführen. Durch ihre Schriften und Prophezeiungen wurde Hildegard von Bingen eine der bekanntesten christlichen Persönlichkeiten der Neuzeit. Ihr Einfluss war immens, stand sie doch in Briefwechsel mit Päpsten und Königen. Immer aber galt ihre Sorge auch den einfache Menschen und den Armen, die zu ihr kamen und bei ihr Rat und Hilfe fanden.

Hildegard starb am 17. September 1179.

Am 10. Mai 2012 sprach sie Papst Benedikt XVI. heilig.

 

 

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