Was die Sioux oder die Algonquin den Großen Geist nennen, ist bei ihnen, wie auch bei vielen anderen indigenen Kulturen Amerikas, das Höchste Wesen – anders gesagt: Gott. In der Sprache der Lakota-Sioux wird die damit gemeinte universale, spirituelle Kraft, auch als das Große Geheimnis bezeichnet.
Mit diesem Geheimnis aber geht die Vorstellung einher, dass es sich da um eine menschenähnliche, anthropomorphe Gestalt handelt, die als Himmelsgottheit und Schöpfer, Welt und Mensch erschuf und darin, wie auch außerhalb dieses Geschaffenen, in alle Ewigkeit fortbesteht.
Wie auch in den abrahamitischen Traditionen denken sich die Stammesältesten der Sioux und auch anderer indigener Stämme, dass diese Gottheit als ein Wesen in der Welt wirkt, dass in die Geschicke des Diesseits eingreift und dabei auch das Schicksal der Menschen lenkt.
Und was etwa im Christentum, Judentum und im Islam die Rolle der Propheten ist, dass nennen die indigenen Völker in ihrer Religion den »Sprecher«, der wie eben jener Prophet in unserer Kultur, ein Auserwählter ist, der die heiligen Offenbarung auszulegen vermag und sie als solche, dem göttlichen Willen entsprechend, den Angehörigen seines Stammes überliefert. Als solch prophetischen Vermittler des Großen Geistes, verpflichtet sich ein Stammesangehöriger dann im Namen seiner spirituellen Traditionen beziehungsweise der jeweiligen, spirituellen Linie seiner Ahnen.
Aber auch eine Gemeinschaft kann sich der Führung des Großen Geistes anvertrauen, was in der Regel durch verschiedene rituelle und zeremonielle Praktiken erfolgt, wie etwa dem Heiligen Sonnentanz. Auf welche Weise jedoch der Große Geist der Gemeinschaft oder dem Einzelnen eines indigenen Stammes erscheint oder in kommunikativen Austausch tritt, ist je nach indigener Kultur unterschiedlich. Denn unter den heute 70 Millionen Angehörigen indigener Traditionen, herrschen unterschiedliche Glaubensüberzeugungen darüber, wie die Menschheit vom Großen Geist beeinflusst wird und mit ihm in Wechselbeziehung steht.
Meist aber ähneln sich die vielen Geschichten, Gleichnisse und Fabeln, die das Wesen des Großen Geistes beschreiben. Hierzu sollen im Folgenden drei Vorbilder gegeben werden, die für viele Menschen unter den indigenen Kulturen Amerikas von Bedeutung sind.
Wakan Tanka
Die heilige Kraft dessen, was durch den Großen Geist wirkt, beschreiben die Angehörigen der Lakota als Wakan Tanka. Diese Kraft ist allgegenwärtig und durchdringt das gesamte Universum. Dabei stehen die Wörter »Wakan« für das Heilige und »Tanka« für die große Kraft.
Seit Urzeiten gilt den Lakota diese heilige Große Kraft, als Überbegriff für eine ganze Gruppe heiliger Wesenheiten, deren Wege jedoch als geheimnisvoll angesehen werden, jenseits allen menschlichen Verstehens. Das könnte durchaus als Hinweis gedeutet werden, dass wie auch einst in Mesopotamien und dem alten Europa, aus einem Vielgötterglauben ein Monotheismus wurde, der dann eben als das Große Geheimnis bezeichnet, jedes Erklärungsversuchs entbehrt.
Manitu
So wie die Irokesen, nehmen auch die Algonquin den Großen Geist wahr, als geistige und grundlegende Lebenskraft, die sie »Manitu« nennen. Wie auch Wakan Tanka, sehen sie in Manitu eine allgegenwärtige Kraft, die sich in allen Dingen manifestiert, in allen Organismen der Natur, wie auch im Menschen mit den sich in seinem Leben ereignenden Vorgängen.
Die Manifestation des Manitu geht jedoch auch einher mit der Vorstellung eines großen Dualismus, wo alles Seiende der Wirkungen von Gut und Böse unterliegt. Da ist die Rede von Aasha Monetu, dem »Guten Geist« und Otshee Monetu, dem »Schlechten Geist«. Der Legende nach gab der Gute Geist, Aasha Monetu, den indigenen Völkern ihr Land, als die Welt erschaffen wurde. So erzählt es das Indianervolk der Shawnee.
Gitche Manitu
In der indigenen Kultur der Anischinaabe-Kultur, Stammes-Abkömmlingen der Cree und eines der heute größten Indianervölker Nordamerikas, ist die Rede von Gitche Manitu, der als Schöpfer aller Dinge und allen Lebens angesehen wird und als das Große Geheimnis im Universum wirkt.
Wie auch die Lakota, glaubten die Anishinaabe einst an eine Vielzahl von Geistern und Gottheiten. Ihre heiligen Bildnisse platzierten sie zum Schutz in der Nähe von Türen und Eingängen. Diese Gottwesenheiten aber stammen laut Legende, alle aus dem Land von Michilimackinac, das der Insel Mackinac im amerikanischen Bundesstaat Michigan entspricht. Auch heute noch pilgern Angehörige der Anischinaabe-Stämme zu Ritualen auf diese Insel, die sie dort dem Großen Geist Gitche Manitu widmen. Wer seine Seele da mit dem Großen Geist zu verbinden sucht, dem hilft Gitche Ojichaag, der sich in seiner Rolle als göttliches Mittlerwesen, gewiss mit dem Heiligen Geist christlicher Vorstellung vergleichen ließe.