Anfang des 17. Jahrhunderts veröffentlichen Unbekannte in Kassel und Straßburg drei Schriften mit den Titeln Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis und Chymische Hochzeit. Sie sollten dereinst die Fundamente einer Geheimbruderschaft bilden, die über ein Wissen verfügte, das anscheinend weit über dem stand, was man damals an den Universitäten Europas lehrte.
Aus dem Verborgenen richteten sich damit die Mitglieder eines geheimen Zirkels an die Gelehrten und Oberen der damaligen Gesellschaft Europas. Ihr anscheinend überlegenes Wissen bezog sich auf zwei sonderbare Bücher: das Liber Mundi und das Liber Theos.
Im Liber Mundi, auch Liber M genannt, finden sich Beschreibungen über besondere Geheimnisse in der Welt. Es ist das »Buch der Natur«, worin Wissen über das Wesen der Mineralien, Pflanzen und Tiere zu finden ist – ein Buch der Naturwissenschaften also. Gewissermaßen ähnelt es der mythischen Smaragdtafel des Thoth-Hermes, die im Akasha existiert, als ein vom Weltengeist eingeprägtes Schriftwerk.
Das andere Buch ist das Liber Theos, das man auch als Liber T kennt. Wie der Name »Theos« bereits vermuten lässt, ist das das »Buch Gottes«. Daraus offenbaren sich dem Eingeweihten Erkenntnis und Inspiration, die aus der geistigen Welt kommend, anregend wirken auf seine Fähigkeit zu erfahren.
Wo befinden sich die Bücher M und T?
120 Jahre nach dem Tod des geheimnisvollen Christian Rosenkreuz, fanden Ordensbrüder sein Grab. Darin entdeckten sie auch die beiden Bücher Liber M und Liber T. So wie Christian Rosenkreuz dort lag, als nicht verwester Leichnam, hielt er letzteres Buch in Händen. Weniger aber war es ein tatsächlich physisches Buch, als vielmehr das, was man als sein geistiges Vermächtnis bezeichnen könnte. Das Liber T bildet die Grundlage des Rosenkreuzer-Schulungsweges.
Weniger geht es in den beiden Büchern um Wissenschaft an sich, als das darin vielmehr eine Gnosis beschrieben wird, aus der sich die inneren Vorgänge des Universums beschreiben lassen. Außerdem heißt es, dass in jener Bruderschaft der Rosenkreuzer, Alchemisten zugegen waren, die tatsächlich unedle Metalle zu transmutieren vermochten in lauteres Gold. Heute aber klingt so etwas wohl recht fragwürdig, ja es mag manche gar an Satire erinnern, wenn das Wort »Alchemie« fällt. Eigentlich aber ging es jenen Eingeweihten weniger darum, tatsächlich Gold herzustellen. Das erschien ihnen eher nebensächlich, zumal sich die Mitglieder dieser Bruderschaft, um solch weltliche Dinge nur wenig kümmerten.
Die Alchemisten unter den Rosenkreuzern waren Mediziner. Sie heilten und halfen Menschen sich von ihren Leiden zu erholen. Jene unter den Rosenkreuzern aber waren auch »Ärzte der Natur«. Sie wussten, dass sich die gesamte weltliche Schöpfung in einem Exil befindet, wo alles Leben leidend seines Daseins fristet. Die Natur aber, und damit auch das Leben, wartet darauf aus den Zwängen des Materialismus erlöst zu werden.
Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.
– Paulus‘ Brief an die Römer 8:19-22
Vorstellungen von einer Neuen Welt
Die Verfasser der drei eingangs erwähnten Manifeste vom Orden der Rosenkreuzer, ließen in ihren Schriften das Wissen aus verschiedenen subtilen Wissenschaften zusammenfließen. Man findet darin esoterisches Wissen aus der Alchemie, Astrologie, Numerologie, Kabbala und Hermetik. Doch auch politische und religiöse Bestrebungen finden sich darin. Daneben scheinen die Rosenkreuzer-Schriften aber auch anti-imperialistische, anti-katholische Tendenzen zu enthalten. Das 17. Jahrhundert prägten solche Entwicklungen. Nur zwei Jahre nach Erscheinen der Chymischen Hochzeit etwa, brach der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) aus, der als eben solcher Konflikt in einem Spannungsfeld ausgetragen wurde, zwischen dem Katholizismus im Süden und dem Protestantismus im Norden Europas.
Gut möglich, dass sich in den Manifesten der Bruderschaft vom Rosenkreuz eine Hoffnung verbarg, die auf den Anbruch einer Zeit der Toleranz hindeutete, auf einen »Neuen Protestantismus«, der sich auch auf hermetisch-kabbalistische Vorstellungen berief.
Ursprüngliche Ziele der Bruderschaft
Zwar waren die Schriften der Rosenkreuzer im Umlauf, doch ihre Leser begegneten nie einem ihrer Verfasser persönlich. Und wer die Schriften der Rosenkreuzer gelesen hat, der weiß, dass darin keine großen Geheimnisse verraten werden. Und doch führte ihre Veröffentlichung bald schon zu einer Manie, in Gelehrtenkreisen Europas. Unzählige Kommentare waren darüber im Umlauf, so dass man das damalige Rosenkreuzertum, durchaus als europäisches Phänomen bezeichnen könnte. In den drei Jahren nach ihrer Veröffentlichung, wurde allein die Fama Fraternitatis siebenmal neu aufgelegt und auch viele Abschriften davon angefertigt.
Stellt sich die Frage: gab es vielleicht eine geheime Absicht, die die Rosenkreuzer mit der Veröffentlichung der Fama, der Confessio und der Chymischen Hochzeit, zwischen 1614 und 1616 erfüllen wollten?
Zumindest wäre da erst einmal darauf hinzuweisen, dass das Rosenkreuzertum sich anfangs in Deutschland und in Frankreich ausbreitete. Die Lehren die die Rosenkreuzer in dieser Zeit herausgaben, konzentrieren sich sowohl auf eine physisch-experimentelle, als auch auf eine spirituelle Alchemie. Unter dem Terminus Alchemie darf man also nicht etwa nur ein Vorläufer der heutigen Chemie verstehen. Im 17. Jahrhundert sahen sich Alchemisten als jene, die eine interdisziplinäre Wissenschaft schufen, deren Vorgänge sich sowohl auf spiritueller, intellektueller und materieller Ebene vollzogen. Gewiss könnte man darum sagen, dass sie heutigen Chemikern gewissermaßen überlegen waren. Schon immer basieren die Kenntnisse über Alchemie und Hermetik auf universalen Gesetzmäßigkeiten, die zu jedem Problem mit Antworten parieren, so als seien sie ein Allheilmittel.
Wer war der Gründer der Rosenkreuzer?
Laut dem englischen Freimaurer Elias Ashmole (1617-1692), lebten die Brüder vom Rosenkreuz in einem Kloster, dass sich etwa 11 Kilometer von Straßburg befindet. Ashmole selbst, wollte sich dieser Bruderschaft anschließen, wie wohl unzählige andere auch. Doch in Wirklichkeit gab es nirgendwo eine Bruderschaft vom Rosenkreuz, mit der man hätte Verbindung aufnehmen können. Die Veröffentlichung der Rosenkreuzer-Manifeste gaben den Lesern ihres Zeitalters also ein Rätsel auf. Es war als hätte jemand einen Stein in ein großes Becken voller Geheimnisse geworfen, was jede Menge Wellen schlug im Bewusstsein der Menschen des 17. Jahrhunderts. Die Auswirkungen dessen, waren so stark, dass sich ihre Tendenzen bis heute in den Kreisen esoterischer Zirkel finden.
Das Werk der »Chymischen Hochzeit Christiani Rosenkreuz Anno 1459« war in den Jahren vor ihrem ersten Druck bereits als Handschrift im Umlauf und erschien 1616 zunächst anonym. Als ihr Autor gilt der 1586 im württembergischen Herrenberg geborene Schriftsteller und Theologe Johann Valentin Andreae. Im Alter von gerade mal 19 Jahren, schrieb er dieses alchemistische Werk auf. Doch wie bei den beiden anderen Manifesten der Rosenkreuzer, stand hinter dem äußeren Sinn dieser Veröffentlichung, eine esoterische Bedeutung. Zwar wurde sie dem Verfasser aus der Geistigen Welt eingegeben, doch er selbst verstand noch nicht worum es darin ging. Er diente quasi als Werkzeug der geistigen Welt, doch schrieb im Namen des geistigen Urhebers Christian Rosenkreuz.
Andreae stammte aus einer illustren protestantischen Theologenfamilie. Sein Großvater Jakob Andreae war einer der Verfasser der Formula Concordiae, der Eintrachtsformel der lutherischen Kirche, die auf Veranlassung des Kurfürsten August von Sachsen entstand. Sein Vater Johannes Andreae, einst Pastor in Tübingen und später Abt des Klosters Königsbronn, verstarb als sein Sohn 15 Jahre alt war. Seine Familie aber hinterließ er in Armut. Alles Geld nämlich hatte er in seine alchemistischen Experimente investiert, mit dem Ziel Gold herzustellen. Vor diesem Hintergrund aber ist wohl auch anzunehmen, dass Johann Valentin Andreae nicht nur über theoretisches Wissen in der Alchemie verfügte.
Andreae begann ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, ab 1602, sein Studium der »Freien Künste« an der Universität Tübingen. Dieses Studium schloss er 1605 mit einem Magister ab. Ab 1606 studierte er dann Theologie und Mathematik.
Über die Alchemie kam Andreae in Kontakt mit dem Tübinger Theosophen und Mediziner Tobias Heß (1558-1614). Er war ein Bewunderer von Paracelsus (1493-1541), jenem sagenhaften Arzt, der einst in die medizinische Heilkunde auch die Wissenschaft der Alchemie integrierte. Doch jeder der sich damals mit Paracelsus befasste gefährdete sich, stand der berühmte Arzt doch in der Tradition der verrufenen Hermetiker. Da die Schriften des Paracelsus aber großen Einfluss auf Heß ausübten, befasste er sich auch mit Alchemie und Hermetik. Über seine Neugier für diese Geheimwissenschaft, lernte er auch Andreaes Vater kennen. Mit ihm entwickelte er verschiedene alchemistische Rezepte, die alle jeweils mit dem Satz enden:
Ihm, Jesus Christus, dem unsterblichen Chymisten, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, in Einheit mit dem Vater und dem Heiligen Geist, dem auf ewig Ruhm und Ehre sei zu den wunderbaren großen Werken hier. Amen, amen, amen.
Heß glaubte an ein kommendes Goldenes Zeitalter, das zur Wiederkehr Jesu Christi führen sollte. Johann Valentin Andreae sah in Heß einen weisen Seher und Wissenden, der wusste was die Zeichen der Welt und der Zeit bedeuteten. Schon als Junge hatte Heß eine Vision vom Untergang der römisch-katholischen Kirche.
Der Tübinger Kreis
Im Jahr 1608 gründete Tobias Heß in Tübingen einen Freundeskreis, dem 12 Mitglieder angehörten. Unter ihnen befand sich auch der junge Andreae, der über den Tübinger Kreis schrieb, es sei ein »intimum amoris foedus«, ein »inniger Bund der Liebe«. Ebenfalls Andreaes jüngerer Bruder Johann Ludwig war Mitglied dieses Freundeskreises, dem auch der Künstler Abraham Hölzel von Sternstein und der erimitierte Pfarrer Johann Vischer angehörten. Wohl nur diese vier Mitglieder wussten wer der eigentliche Verfasser der Fama und der Confessio war.
Heß und die Mitglieder seines Kreises, beschäftigten sich mit paracelsischem und alchemistischem Gedankengut, mit Traum- und Zukunftsdeutung und spekulierten über die bevorstehende Apokalypse. Aber auch die christliche Frömmigkeit und die Reformgedanken innerhalb der Kirche, spielten eine zentrale Rolle. Dieser Kreis von Intellektuellen und Sehern, inspirierte Andreae wohl auch zu seinem späteren Werk »Christianopolis«, der Utopie einer idealen Gesellschaft. Keine Frage war Johann Valentin Andreae eines der wichtigsten Mitgliedern des Tübinger Kreises. Er war von seinem Einfluss doch vollkommen vereinnahmt. Was er aus den Treffen des Kreises thematisch zusammenfasste, darauf auch basierte die Idee einer reformerischen Bruderschaft, einer großen geistigen Bewegung, die sich in langer Vorbereitung im Verborgenen gründen sollte.
Dass es ihm anscheinend auch darum ging, so eine Geheimgesellschaft zu gründen, darauf deuten drei seiner Werke hin:
- 1619 Christianopolis: Eine christlichen Utopie, aus der Perspektive eines Schiffbrüchigen geschrieben. Der strandet auf der Insel Caphar Salama, findet die sagenhafte Stadt Christianopolis und berichtet über das Leben der Menschen dort. Gewiss erinnert das an das 1626 erschienene utopische Werk Nova Atlantis (»Neu-Atlantis«) von Sir Francis Bacon (1561-1626).
- 1619 Turris Babel: Hierin verkündete Andreae seinen Rückzug aus einer chaotisch gewordenen »Rosencreutzerey«, wie er sie nennt. Gut möglich aber, dass er das mit der Absicht tat, seine eigene Bedeutung als wichtiges Mitglied in diesem Geheimorden zu vernebeln. Doch nicht etwa um sich damit in eine vermeintliche Sicherheit zu bringen, sondern eher um zu einer weiteren Mystifizierung der legendären Rosenkreuzer beizutragen.
- 1620 Christianae Societatis Imago: Über die Vorstellungen einer elitären, religiös-gelehrten Gesellschaft.
Anscheinend ging es Andreae ab einem gewissen Zeitpunkt darum, auf die Gründung einer Gesellschaft hinzuarbeiten, die über den bisher stehenden Wissenschaften und Religionsvorstellungen stand. Auf seinen häufigen Reisen in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, in Italien und Österreich, dürfte er sehr wohl andere Gelehrte in seine Vision eingeweiht haben: Die lange geplante Gründung einer Gesellschaft zur Neuordnung seines Zeitalters. Darauf verweist eben die Gleichzeitigkeit vom Erscheinen seiner Werke und den Gerüchten einer neu gegründeten Geheimbruderschaft der Rosenkreuzer.
Spiritualität, die allein im Außen, in den grauen Gemäuern von Kirchen gesucht wird, erschien Johann Valentin Andreae als unzureichend. Damit stimmte er mit den Auffassungen von Heß überein, wie auch mit jenen des Paracelsus, hundert Jahre zuvor. So gab es für Andreae eine »Geistige Kirche«, die im Innern des Mikrokosmos Mensch gegenwärtig ist. Doch gleichzeitig basierte Andreaes äußeres Wirken nicht etwa nur auf Spekulationen, sondern er lieferte tatsächlich brauchbare Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen – sowohl als Theologe, wie auch als Mathematiker. Er trug außerdem ganz wesentlich zu einer Reform der Erziehungswissenschaften bei, denn seine Arbeiten sollten auch einen seiner Freunde ganz wesentlich beeinflussen: den berühmten Philosophen und Pädagogen Johann Amos Comenius (1592-1670). In seinem 1623 erschienenen Buch »Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens«, einem Klassiker der tschechischen Literatur, schreibt Comenius über seine Hoffnungen, die er in das Rosenkreuzertum setzt. Es ist das Werk eines idealistischen Geistes. Doch wie auch die utopischen Erwartungen Andreaes, wurden auch Comenius‘ Erwartungen durch den Beginn des Dreißigjährigen Krieges zerstört.
Nach seinem Schlussexamen im Jahre 1614, wurde Andreae zum Diakon in Vaihingen berufen, wo er auch heiratete. Später beförderte man ihn zum Superintendenten in Calw. 1638 wurde er in Stuttgart Hofprediger und Konsistorialrat. Ab dieser Zeit trat er ein für eine grundlegende Kirchenreform und promovierte danach an der Universität Tübingen zum Doktor der Philosophie. Seine Karriere beendete er schließlich als Abt in der evangelischen Klostergemeinde Adelberg, wo er dann im Jahre 1654 nach langer Krankheit verstarb.
Johann Valentin Andreae hinterließ ein wirklich beeindruckendes Werk. Er verfasste zwei Komödien über Esther and Hyacinth, und auch schon in dieser Zeit die erste Version der Chymischen Hochzeit, dessen Protagonist vielleicht erst später, mit der Veröffentlichung des Werkes umbenannt wurde in Christian Rosenkreuz. Doch da das erste Manuskript zur Chymischen Hochzeit nicht mehr existiert, besteht über diese Annahme Unsicherheit. Fest steht, dass die Symbole von Rose und Kreuz in der Chymischen Hochzeit eine ganz und gar nebensächliche Rolle spielen.
Warum Rose und Kreuz?
Wenn wir uns einmal das Wappen der Familie Andreae ansehen, so zeigt das Heroldsbild auf dessen Schild-Element ein rotes, schräggestelltes Kreuz (Andreaskreuz) mit vier roten Rosen. Doch jene Bruderschaft, die diese Bildelemente als Namen führt, das heißt also die »Rosenkreuzer«, verweisen auf eine esoterische Bedeutung der Bilder von Rose und Kreuz. Ob das aber nur eine äußere Erklärung von etwas ist, das den Uneingeweihten unzugänglich bleiben soll, sei einmal dahingestellt.
Doch mit dem, was wir oben bereits andeuteten, erscheint es recht wahrscheinlich, das Johann Valentin Andreae der eigentliche Gründer der Rosenkreuzer-Bruderschaft war, selbst wenn er sich von den Rosenkreuzer-Manifesten nachträglich distanzierte. Der Grund dafür ist klar: Es sollte ein Geheimbund bleiben, dessen Ziele er wohl gefährdet hätte, wäre seine Stellungnahme dazu positiv ausgefallen. Die Bruderschaft der Rosenkreuzer schien aber auch zu wissen, dass, wenn sie durch ihr Werk wirklich ein neues Zeitalter einleiten wollten, sie ihre Existenz in einen Mythos kleiden mussten. Und das war die Legende von Christian Rosenkreuz, die diesem esoterischen Zirkel die Form eines großen Geheimnisses verlieh – einem der wohl wirkungsvollsten Mittel, um die Aufmerksamkeit von Menschen zu ergattern. Es scheint darum kein Zufall, wenn damals die deutsche Obrigkeit, etwas nach dem Erscheinen der Chymischen Hochzeit, Andreae einen Fanatiker nannte, der mit dieser Schrift doch nur die Prophezeiungen des Paracelsus verkünden wolle. Der französische Autor Louis Figuier (1819-1894) schrieb dazu in seinem 1854 erschienenen Werk L’alchimie et les alchimistes (»Die Alchemie und die Alchemisten«):
Valentin Andreae möchte mit dieser philosophischen Assoziation eine Prophezeiung verkünden, die aus den Werken des Paracelsus spricht. Als fanatischer Anhänger der Lehren dieses berühmten Mannes, hatte Andreae beschlossen, einer der Aussagen dieses Meisters besondere Bedeutung zuzuschreiben. Tatsächlich schrieb Paracelsus im 8. Kapitel seines Buches der Metalle: ‚Gott wird uns erlauben, eine Entdeckung von größerer Bedeutung zu machen, die bis zur Ankunft des Elias Artista verborgen bleiben muss‘.
Aufstieg des Propheten Elias und Szenen seines Lebens. Griechisch-Orthodoxe Ikone des Künstlers Theorodos Poulakis (1620-1692), ausgestellt im Byzantinischen Museum Athen.
In der Bibel finden sich Andeutungen darüber, dass Elias in der Endzeit gemeinsam mit Jesu Christi (der ihm folgt) wiederkehren werde.
Was Paracelsus prophezeite, war Elias‘ baldige Wiederkehr, nämlich vor der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), die damit ja gewiss als eine »Endzeit betrachtet« werden kann. Sehr wahrscheinlich, dass es sich hier um eine astrologische Berechnung Paracelsus‘ handelte, womit er ein prägnante Lichterscheinung am Nachthimmel meinte, die sich während einer Konjunktion von Saturn, Jupiter und Mars im Sternbild Schütze, im Jahr 1603 ergeben sollte. Astrologisch gesehen, ließe sich diese Art Konjunktion durchaus als Zeichen für eine Zeit der Erleuchtung deuten.
Ist es darum nicht eigenartig, dass Tobias Heß den Anbruch seines vermuteten Goldenen Zeitalters eben auf das selbe Jahr 1603 datierte?
War das etwas, worauf Johann Valentin Andrae vorbereiten wollte? Spielte dabei auch der Tübinger Kreis eine wichtige Rolle und erfolgte die Gründung der Geheimbruderschaft vom Rosenkreuz, um ihre Mitglieder auf die Ankunft dieses Elias Artista einzustimmen?
Für Paracelsus auf jeden Fall stand Elias Artista stellvertretend für den entrückten Propheten Elias im Alten Testament. Er war für ihn das Ideal eines Gesandten, durch dessen Ankunft auf Erden, kommende Generationen Erleuchtung und Glückseligkeit erfahren werden. Paracelsus sah in Elias den vollkommenen Adepten, der mit seiner Wiederkehr den Menschen Anteil haben lassen wird, an bisher nicht dagewesenem Wohlergehen.
Mit diesem Elias Artista aber, muss Paracelsus gar kein menschliches Individuum gemeint haben, sondern er verstand darin vielleicht eher eine Gruppe oder Vereinigung von Weisen, wie eben jene, die sich später dann in Tübingen, um Tobias Heß sammeln sollten. Gut möglich deshalb, dass Andreae den Orden ins Leben rief, um diese Prophezeiungen des Paracelsus tatsächlich zu erfüllen und in diesem Sinne die Paracelsische Tradition im Orden der Rosenkreuzer fortzuführen, in Vorbereitung auf die Wiederkehr des entrückten Propheten.
Eine universale Reform der Gesellschaft
Die Zustände im damaligen Deutschland und in Europa waren recht chaotisch. Eine Reform des religiösen Zusammenlebens stand unmittelbar bevor, wenn sie auch gewalttätig herbeigeführt werden sollte.
Der junge Andreae aber hoffte, dass diese Veränderungen auf friedliche Weise erfolgen würden. Sein Vorbild war Luther, dessen Erinnerungen in Deutschland noch immer jung und gegenwärtig waren. Wir hatten bereits die Vermutung angestellt, dass er, um diese Bestrebungen auch tatsächlich in eine sinnvolle Form zu führen, jene Gründung der Rosenkreuzer herbeiführen wollte.
Und trotzdem kann heute keiner behaupten zu wissen, in welchem Verhältnis Johann Valentin Andreae zur Bruderschaft der Rosenkreuzer stand oder ob er sie tatsächlich selbst gründete. Man bewegt sich da in einem Bereich vollkommener Unschärfe, zwischen einer eher geistigen, unsichtbaren Bruderschaft und dem Tübinger Kreis um Heß. Fest steht jedoch, dass Andreae mit seiner Chymischen Hochzeit zu dem, was als die ersten beiden Manifeste der Rosenkreuzer gilt, etwas beitrug, das man als die Gesinnung für ein neues Zeitalter beschreiben könnte. Es war eine umfassende Sichtweise, die sowohl philosophische, religiöse, künstlerische wie auch wissenschaftliche Ansätze zum Verständnis von Geist und Natur, auf ganzheitliche Weise zu erklären versuchte. Alle, die dieses Wissen erlangten, sollten sich dadurch selbst in ein kommendes, neues Zeitalter eingliedern können. Wie uns die Geschichte aber zeigt, erfolgte das ganz und gar nicht harmonisch, sondern im Grauen des Dreißigjährigen Krieges.
Niemand wusste damals, wer die Urheber der Rosenkreuzer-Manifeste gewesen sind. Unzählige Gelehrte jener Zeit, die auch auf die politischen Geschicke Einfluss nahmen, versuchten sich zu erklären, wer hinter diesen anonym erschienenen Schriften stand. Kaum verwunderlich, wenn die Fama, Confessio und Chymische Hochzeit, so großes Aufsehen erregten. Also versuchten manche mit den Rosenkreuzern in Verbindung zu treten. Andere verfassten Schmähschriften gegen sie. Wieder andere behaupteten selbst zu dieser Bruderschaft zu gehören.
Doch es gab einen Grund dafür, dass die Rosenkreuzer keine Adresse in ihren Schriften hinterließen: Sie wollten nicht als neue Obrigkeit Wissender, andere unterweisen müssen, wie dieses erhoffte, neue Goldene Zeitalter einzuleiten sei. Jeder sollte diesen universalen Vorgang in sich selbst durchführen, um damit jene, oben angedeutete »Geistige Kirche« zu gründen. Auf dieser Basis, sollte jeder für sich die utopische Vision einer Gesellschaft entwickeln, die zum Wohle aller entstehe und zu der er, als Wissender seinen Beitrag leiste.