Im inneren Schauen des Lichts Gottes, erfährt ein Mensch die höchste Vervollkommnung seiner irdischen Existenz. Dann ist er am engsten verbunden mit Gott. Nach dieser Erfahrung strebten jene frühchristlichen Mönche und Eremiten, die man die „Wüstenväter“ nennt.
Ein Großteil der Christen im Osten, darunter die spirituelle Bewegung der Hesychasten, berufen sich in ihrer spirituellen Praxis auf diese heiligen Mönche, Nonnen und Eremiten. Sie lebten Anfang des 3. Jhd. hauptsächlich in den Wüsten Ägyptens und Syriens.
Berühmtester christlich-orthodoxer Eingeweihter, war der Heilige Antonius (um 250-356), der sich im Jahre 270 in die ägyptische Wüste zurückzog. Antonius, genannt „Der Große“, gilt als der Begründer des monastischen Wüstentradtiton. Nach seinem Tod zog es tausende Mönche und Nonnen in die Wüste, dem Vorbild des Heiligen Antonius folgend. Hierzu schrieb einer seiner Biografen, der Mönch Athanasius von Alexandria (296-373):
Die Wüste wurde zur Stadt.
Darum dürfte es nicht verwundern, wenn der Einfluss der Wüstenväter, eine ganz wesentliche Rolle auf die Entwicklung des damals noch jungen Christentums spielte. Insbesondere aber die klösterliche Tradition im Christentum, geht auf die Wüstenväter zurück. Zu den bekanntesten Klöstergemeinden, zählt wohl der Mönchsstaat auf dem heiligen Berg Athos in Griechenland. Auch für die Klostergründungen im Mittelalter, waren die alten Wüstenväter Quelle der Inspiration.
Der Heilige Antonius. Russische Ikone von Nikolai Roerich.
Vom Schauen des mystischen Taborlichts
Durch ihre spirituelle Praxis gelang es den Wüstenvätern das „mystische Licht der Liebe“ zu schauen. Man nennt diese, innerlich gemachte Erfahrung auch das „Schauen des Taborlichts“. Dieser Begriff stammt aus dem Ereignis auf dem Berg Tabor, das die folgenden Bibelverse wiedergeben:
Sechs Tage danach nahm Jesus Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes beiseite und führte sie auf einen hohen Berg. Und er wurde vor ihnen verwandelt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, es erschienen ihnen Moses und Elijas und redeten mit Jesus. Und Petrus antwortete und sagte zu Jesus: Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Moses und eine für Elijas. Noch während er redete, siehe, eine leuchtende Wolke überschattete sie und siehe, eine Stimme erklang aus der Wolke: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören. Als die Jünger das hörten, warfen sie sich mit dem Gesicht zu Boden und hatten große Furcht. Da trat Jesus zu ihnen, fasste sie an und sagte: Steht auf und fürchtet euch nicht! Und als sie aufblickten, sahen sie niemanden außer Jesus allein. Während sie den Berg hinabstiegen, gebot ihnen Jesus: Erzählt niemandem von dem, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt ist.
– Matthäus 17:1-9
Das Taborlicht ist kein gewöhnliches Licht. Es ließe sich vielleicht als „ungeschaffene Energie Gottes“ beschreiben. Doch jeder Mensch kann eine Stufe der Spiritualität erreichen, um im Gebet dieses Licht zu schauen. Es ist nichts was man sich einbildet, sondern es geht hier tatsächlich um ein Sehen jenes Taborlichts, dass der Betende im Innern wahrnimmt. In diesem Licht erstrahlt die Herrlichkeit Gottes. Was Jesus seinen Jüngern im Taborlicht zeigte, war das Wirken Gottes durch den Christus. Wichtig aber ist, dass Gottes Wirken nicht das Selbe ist, wie seine wahrhafte Essenz. Dazu sagt das Johannes-Evangelium:
Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.
– Johannes 1:18
Verklärung des Herrn Christus auf dem Berg Tabor. Russische Ikone aus dem 16. Jhd.
Ursprünge des Hesychasmus
In der Tradition des Hesychasmus streben die Praktizierenden nach vollkommener Gedankenstille. Daher das griechische Wort „Hesychia“, die Ruhe. Hauptziel der Hesychasten ist es, die physische Wahrnehmung vollkommen einzuschränken, um damit eine innere Konzentriertheit zu entwickeln. Dies kann natürlich nur erfolgen in der Abgeschiedenheit, wonach die Wüstenväter in der Stille der Wüste suchten.
Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
– Matthäus 6:6
Die Tradition des Hesychasmus, enthält aber nicht allein Wissen aus der christlichen Tradition der Evangelien-Auslegung. Das vielleicht mag einer der wichtigsten Punkte sein, der der Hesychia-Tradition von ihren Kritikern entgegnet wurde. Der Hesychasmus enthält nämlich auch Elemente aus dem Platonismus und der jüdischen Merkaba-Mystik. Möglicherweise findet man Wurzeln dieser Tradition, zwischen dem 3. und 7. Jhd. auch im Neuplatonismus.
Laut der Merkaba-Tradition, nimmt ein Meditierender eine besondere Meditationshaltung ein, um das mystische Licht zu schauen. Sie wird sogar im ersten Buch der Könige dargestellt. Als der Prophet Elias seine Himmelfahrt unternahm, legte er seinen Kopf auf die Knie:
Und da Ahab zog hinauf, zu essen und zu trinken. Elia ging auf des Karmels Gipfel und bückte sich zur Erde und tat sein Haupt zwischen seine Knie
– 1. Könige 18:42
Auch die griechisch-orthodoxen Hesychasten nehmen diese Haltung ein, um in Meditation das mystische Tabor-Licht zu schauen. Ihre Gegner aber verurteilten sie dafür. Sie nannten sie daher einfach abfällig die „Omphalopsychiten“, jene die den „Nabel anstarren“.
Wie auch in der jüdischen Merkaba-Tradition, atmet der Hesychast während dieser Form der Meditation rhythmisch und ruft dabei einen heiligen Namen an. Der Ursprung dieser Form der Meditation, liegt wohl in den Askesepraktiken der Propheten der Bibel.
Gut möglich, dass auch der Apostel Paulus in dieser Tradition stand und vielleicht ein früher Adept der Mekaba-Mysterien war.
Elemente der Hesychia-Tradition
Der Hesychasmus beschäftigt sich mit den geistigen Fähigkeiten der Seele. Hierbei unterscheiden die Hesychasten zwischen intellektuellem Verstandesdenken (griech. nous) und dem rein innerlich gefassten Denken (griech. logos).
Außerdem wird im Hesychasmus unterschieden zwischen andächtiger Versenkung und dem Verzicht auf willentliche Wunscherfüllungen. Nur so, soll der Meditierende das wahrhaftige Wesen Gottes, wie auch seine Wirkungsweisen erkennen. Die Unterscheidung dieser beiden Aspekte des Göttlichen jedoch, ist nicht etwas, dass erst die Hesychasten herausfanden. Schon damals war diese Differenzierung des göttlichen Wesens, bereits Jahrhunderte alt. Sicher jedoch wussten schon die Wüstenväter, dass man die wahre Erkenntnis des Göttlichen, nicht etwa allein durch das Studium der Heiligen Schrift, sondern durch die Reinigung der Seele und das inständige Gebet erreicht.
Später gewann eine weitere Lehre an Bedeutung, die sich auf zwei Aspekte des Göttlichen konzentrierte: das Wesen und die Eigenschaften Gottes, insbesondere das, was die Hesychasten als „göttliche Kraft“ bezeichneten. Was aber ist damit gemeint?
Im Platonismus galt Gott als unerreichbar, jenseits aller Kategorien des Seins. Man dachte sich: Gott würde die Welt der Materie niemals berühren. Alles was vom Göttlichen in der Welt des Seins hervorgerufen wurde, geschah im Auftrag Gottes durch die Demiurgen. Sie wirkten als himmlische Vermittler zwischen Gott und Mensch. Ebenso unterschied man im Hesychasmus also zwischen dem Wesen Gottes und der durch seine Kräfte erfolgten Wirkungen in der Welt. Gott an sich transzendiert alles, ist absolut und nicht durch Worte oder irgend welche Konzepte beschreibbar. Kein Auge kann ihn sehen, kein Geist ihn erfassen. Alles was der Mensch vom göttlichen Wirken wahrnimmt, sind die Ausführungen eben jener göttlichen Kräfte. Daher also die konzeptuelle Trennung vom Wesen Gottes und der Wirkungen des Göttlichen.
Beispiele über die Bedeutung jener Trennung, lieferten die Hesychasten Gregor Sinaites (†1346), Athanasius von Meteora (1305-1380) und der Heilige Basilius von Poiana Mărului (1692-1767). Sie verglichen das Wesen Gottes und seine Kraft, mit dem Wesen der Sonne und ihrem Licht: die Sonnenstrahlen sind ja in der Tat nicht identisch mit dem eigentlich brennenden Globus der Sonne – doch es gibt nur eine Sonne. Um die Wahrnehmung dieser „Lichtstrahlen des Göttlichen“, dreht sich die meditative Praxis in der Tradition der Hesychia. Es gibt nur einen Gott, wahrgenommen wird aber nicht er selbst, sondern sein „Licht“, das aber, da es aus ihm entstammt, auch er selbst ist. Doch wäre es falsch, Gott mit seinen Wirkungen gleichzusetzen.
Meditationpraxis der Hesychia-Mönche
Erhabenes Ziel der Mönche auf dem Pfad der Hesychia-Tradition, ist das kontemplative Gebet und die damit geübte Achtsamkeit.
Grundlegend unterscheidet die Hesychia-Praxis drei Stufen:
- Die Reinigung – Katharsis,
- die Erleuchtung – Theoria und
- die Vergöttlichung – Theosis, worin die Einheit in Gott erfahren wird.
In Vorbereitung auf seine göttliche Vision, reinigt ein Mensch seinen Geist und seine Fähigkeiten der Wahrnehmung. Nur im Vollzug der ersten beiden Phasen von Katharsis und Theoria, kann Selbstsucht umgewandelt werden in selbstlose Liebe. Diese Verwandlung findet im Meditierenden statt, der die höheren Ebenen der Erleuchtung erreicht hat. Aus ihm wurde ein Sehender. So jemand ist fähig, unablässig sich an die göttliche Wahrheit zu erinnern.
Wen seine selbstsüchtige, ego-zentrierte Einstellung gefangen hält, dessen Herz aber bleibt verhärtet. So ein Herz ist verbittert und ihm bleiben die Pforten zur göttlichen Liebe verschlossen und er wird in seinem Leben nicht an der Herrlichkeit Gottes teilhaben. Irgendwann aber, so die Wüstenväter, wird so jemand der Herrlichkeit Gottes gewahr, doch nicht etwa in Form des segnenden Taborlichts, doch als ewig verzehrendes Feuer und äußere Finsternis.
Die Reinigung – Katharsis
Es bedarf also der Reinheit und der Lösung aus einer ego-zentrischer Lebensführung. Um die Katharsis richtig zu praktizieren, bedarf es aber einer gewissen Gelassenheit. Sie kann nicht erzwungen werden. Ohne die Reinigung des Geistes aber, gibt es kein Fortkommen auf dem Weg. Die Reinigung der im Geiste entstehenden Vorstellungen, ist dafür Voraussetzung. Wer jedoch geduldig mentale Askese übt und sich damit von verführerischen Vorstellungen befreit (die Wüstenväter sprachen hier von den „Dieben“), erreicht nach und nach den Zustand der Katharsis. Hierzu richten die Hesychasten ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein ihrer inneren Welt. Während dieser kontemplativen Innenschau, rezitiert der Hesychia-Mönch das Jesusgebet, lässt es sprichwörtlich in seinem Herzen kreisen, daher nennt man es ja auch das Herz-Jesu-Gebet. Dabei beschränkt der Meditierende seinen Geist vollkommen auf die innere Wahrnehmung in seinem Herzen, ohne dass er abschweift oder an etwas anderes denkt, als eben die Worte des Jesusgebets.
Nicht aber etwa, übt sich diese Form höchster Konzentration hin und wieder, wenn die „Zeit dafür da ist“: ununterbrochenes Beten ist erforderlich. Nach einiger Zeit konzentrierten Übens jedoch, erfolgt die innere Rezitation des Jesusgebets automatisch. Es heißt, sogar im Schlaf, beten die Mönche der Hesychia-Tradition das Jesusgebet. Es kreist unentwegt als spirituelle Entität in ihren Herzen. Wann immer ein ungebetener Gedankengang einsetzt, um den Mönchen zu verführen, besinnt er sich erneut auf sein Herz und die darin erspürten Worte des Jesusgebets.
Der Heilige Johannes Klimakos vom Sinai (570-650), beschrieb die Hesychastische Praxis so:
Nimm Platz an hohem Orte und schau, wenn Du nur weißt wie, und Du wirst sehen, auf welche Weise, wann, woher, wie viele und welche Arten von Dieben Dir auflauern und Deine Weintrauben stehlen. Wird der Wächter überdrüssig, steht er auf und betet; und dann setzt er sich wieder und geht mutig seiner vorherigen Tätigkeit nach.
Der Hesychast soll seine Sehnsüchte binden durch ununterbrochenes Üben der Enthaltsamkeit. Nur so kann er die Versuchungen überwinden. Es heißt sogar, er solle eine Art „kontrollierte Wut“ gegenüber verführerischer Gedanken entwickeln. Gleichzeitig aber soll er unablässig das Jesusgebet rezitieren, damit verführerische Visionen erst garnicht entstehen können.
Der griechische Mönch Evagrios Pontikos (346-399) zählte zu diesen verführerischen Gedanken jene, die zu Fettsucht führen, Sucht nach sexueller Befriedigung erzeugen, Zweifelsucht, Zorn, Mutlosigkeit, Melancholie, Prahlerei und Stolz. Gewiss aber gilt es hier zu differenzieren, denn diese fast 1700 Jahre alte Kategorisierung, lässt sich heutzutage, nicht mehr so einfach zusammenfassen. Sicherlich aber, sind diese acht Nachlässigkeiten (Acedia) auch heute noch die Ursache für Lebensprobleme. Jeder Mensch hat seinen Grund, wieso er gegen sich selbst rebelliert. Es geschahen Dinge in seinem Leben, die in ihm schädliche Neigungen entstehen ließen. Doch wir alle können uns ändern – je früher, desto besser. Denn je älter wir werden, desto tiefer werden die Furchen, die solche Neigungen hinterlassen und desto schwerer nur, lassen sie sich glätten.
Die Erleuchtung – Theoria
Was den Hesychasten ausmacht, ist die Disziplin einer mentalen Askese. Er verfrachtet gewissermaßen sein Denken in sein Herz. Gelassen spricht er in Zurückgezogenheit, in seinem Herzen, das Jesusgebet:
Herr Jesus Christus,
Sohn des lebendigen Gottes,
Erbarme Dich meiner.
Kyrie Iesou Christe,
Yie tou Theou,
Eleison me.
Der Hesychast betet das Jesusgebet also mit dem Herzen, entschlossen und wahrhaftig. Darum nennt man es auch das „Herz-Jesu-Gebet“. Niemals aber spricht der Hesychast nur die Silben des Jesusgebets vor sich her, sondern empfindet im Herzen ihre mystische Bedeutung, fühlt ihrer wahren Kraft nach. Was hier aber gemeint ist, mit dem „Verfrachten des Denkens ins Herz“, ist nicht nur Metapher, sondern wörtlich zu nehmen. Nach langem, ununterbrochenen Üben, so die alten Wüstenväter, versinkt das Denken von allein im Herzen – was nicht bedeutet, dass das Gehirn seine Funktion aufgibt. Im Gegenteil: das Kopfdenken ist wie der Sekretär des Meisters, der jedoch im Herzen wohnt.
Doch diese Meditationspraxis ist nicht gleichzusetzen mit einer Visualisierung. Das im Herzen ausgeführte Jesusgebet ist frei von Bildern. Wer darum lange Zeit, in Meditation das Jesusgebet praktiziert, den behindern plötzlich entstehende Vorstellungen nicht länger, die ihn zuvor zu unerwünschtem Handeln führten. Mit Handlungen ist nicht einmal das gemeint, was Evagrios Pontikos als verführerische Gedanken aufführte. Generell befindet sich der Geist eines Betenden, ruhig und frei von unerwünschten Bildern. Gewiss besteht hier eine Ähnlichkeit zu dem, was die Sufis das Dhikr nennen: das Erinnern an Gott. Ebenso lassen sie im Herzen die 99 Namen Allahs kreisen, um ihr Denken zu reinigen und ihr Herz, wie sie sagen, zu „polieren“.
Wer als Meditierender in diese Phase der Praxis eingeht, hat eine hohe Stufe der Vervollständigung seines Daseins erreicht. Sein Denken im Griff zu haben, ist das praktische Ziel eines Menschen, in der Praxis der Hesychia-Tradition.
Besonders aber betonten die Wüstenväter die Bescheidenheit eines Menschen, der das Jesusgebet praktiziert. Wer jedoch als Möchtegern-Hesychast mit seinen Fähigkeiten prahlt, dem könnte das zum Verhängnis werden, denn dann schleifen sich in das Herzdenken, egozentrische Ambitionen mit ein, die dort gewiss ihre Spuren hinterlassen.
Praktische Übung für die Herz-Jesu-Meditation
Im Folgenden soll eine Methode gegeben werden, die ein Meditierender, sowohl achtsam und entsprechend atmend, während stiller Rezitation des Jesusgebets übt. Hierzu sollte man an einen ruhigen Ort gehen oder eben zu einer Tageszeit üben, wo etwaiger äußerer Lärm am geringsten ist. Sie können ganz entspannt wo Platz nehmen, so dass Sie bequem sitzen und sich dabei wohlfühlen.
Atmen Sie nun ganz ruhig – doch versuchen Sie nicht ruhig zu atmen. Lassen Sie Ihrem ruhigen Atem freien Lauf. Versuchen Sie in diesem Bewusstsein ein oder zwei Minuten lang ganz langsam und entspannt zu atmen. Lassen Sie los.
Es mag hilfreich sein, in Ihren Gedanken, mit jedem Inhalieren zu sagen „Einatmen“ oder schlicht „ein“, und mit jedem Exhalieren zu sagen „Ausatmen“ oder schlicht „aus“. Konzentrieren Sie sich vollständig auf ihren Atem. Spüren Sie nach, wie …
- sich ihre Lungen mit Luft füllen und wieder entleeren,
- wie sich ihre Bauchdecke langsam hebt und wieder senkt,
- wie ihre Nasenöffnungen beim Einatmen leicht abkühlen und ihre Nasenöffnungen beim Ausatmen wieder etwas wärmer werden.
Genießen Sie ihren ruhigen Atem und die daraus resultierende, langsam einkehrende Entspannung.
Wenn in Ihnen nun Ruhe eingekehrt ist und Sie entspannt sind, spüren Sie der Stille nach, die sich am Ende jedes Ausatmens einstellt – einem Punkt vollständiger Erleichterung, ein natürlicher Zustand vollkommener Sammlung. Es ist, als ob uns unsere Atmung zurückführt zum Ursprung allen Atmens, wo wir ganz kurz innehalten, damit wir uns unserer selbst bewusst werden. Jetzt bedarf es keiner Worte mehr. Es ist ein vollkommen natürlicher Zustand geistiger Versenkung.
In diesem Zustand der Stille, beginnen Sie jetzt damit, ganz ruhig das Herz-Jesu-Gebet in ihren Gedanken im Herzen zu sprechen, wobei Ihr Atem sowohl die Wörter, wie auch Sie selbst trägt – hinein in den genannten natürlichen Zustand vollkommener Sammlung, am Ende jedes Ausatmens.
- Mit dem ersten Ausatmen sagen Sie nun, „Herr Jesus Christus“,
- Mit dem zweiten Ausatmen sagen Sie, „Sohn des lebendigen Gottes“,
- Mit dem dritten Ausatmen sagen Sie, „Erbarme Dich meiner“.
Wiederholen Sie diese Übung etwa 10-20 Minuten (Sie können hierfür zum Beispiel einen Rosenkranz mit 55 Perlen verwenden, wo bei jeder Perle ein Gebetszyklus mit eben jenen drei Atemzügen erfolgt).
Ziel eines gläubigen Christen ist, das Herz-Jesu-Gebet zu einem „Unablässigen Gebet“ werden zu lassen, dass beständig im Herzen gebetet wird. Es wird ihm auch in Zeiten helfen, die mit viel Stress oder sogar Bedrohungen einhergehen. Voraussetzung dafür ist, dass es dieses Gebet tatsächlich in seinem Herzen verinnerlicht, ja selbsttätig betet.
Die Vergöttlichung – Theosis
Ein Mensch, der der Hesychia-Tradtion folgt, erfährt die nachsinnende Versenkung in Gott, als Licht. Der Heilige Gregor Palamas (1296-1359) sprach hier vom „ungeschaffenen Licht“. Für einen Hesychasten aber, dem durch die Gnade Gottes solch Erfahrung gewährt wurde, hält diese Schau göttlichen Lichts nicht etwa dauerhaft an. Es ist eine kurze, vorübergehende Erfahrung, nach der er aber in sein weltliches, irdisches Leben zurückkehrt, um das inständige Jesusgebet fortzuführen.
Im Hesychasmus wird dieses „ungeschaffene Licht“ gleichgesetzt mit dem Heiligen Geist. Wer dieses Licht schaut, erfasst das Wesen des Heiligen Geistes.
Hesychasmus und die spirituellen Traditionen des Ostens
In mancher Hinsicht gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem Hesychasmus und den Meditationspraktiken östlicher Weisheitslehren und Religionen – wie insbesondere dem Buddhismus oder dem Yoga der hinduistischen Tradition. Was im Hesychasmus als das Jesusgebet praktiziert wird, entspricht etwa dem, was im Osten als Mantra bezeichnet wird. Gewiss besteht eine Ähnlichkeit im Zweck, der das Jesusgebet verfolgt, mit dem, was im Buddhismus als wichtigstes Mantra bekannt ist: „Om Mani Padme Hum“. Das Wort Padme meint hier den unbefleckten, reinen Lotus, was gewiss eine Ähnlichkeit hat, mit dem durch das Jesusgebet geläuterten, „unbefleckten Herzen“.
Es wäre jedoch unangebracht, das Jesusgebet mit den Mantras der östlichen Weisheitslehren einfach gleichzusetzen. Es ist eben nicht einfach eine Aneinanderreihung von Silben, deren Bedeutung man nicht kennt, da sie aus einer anderen Sprache stammen. Was natürlich auch nicht heißt, dass jemand der des Sanskrit mächtig ist, nicht auch mit dem Om Mani Padme Hum der Tibeter zu selbem Ziel gelangt.
Oft ist es aber der Kontext, in dem ein Mensch sich in meditative Stimmung begibt. Wer nur die Gebete und Mantras einer spirituellen Tradition ausspricht, ohne diese tatsächlich auch zu kennen, der bleibt wohl eher an der Oberfläche dessen, was eigentlich durch die Praxis des Gebets beabsichtigt wird. Es geht eben auch darum, aus dem gesamten Kontext einer Religion oder Weisheitstratition zu handeln. Wer darum als orthodoxer Christ das Jesusgebet rezitiert, wird gewiss zu anderen Ergebnissen kommen, als einer, der es nur aus dem Kontext genommen vor sich her sagt.
Und doch muss ebenso betont werden, das die Beschäftigung mit den Prinzipien hinter diesen Gebetsausführungen und den Meditatonspraktiken der Hesychasten, eine ganz grundlegende Fähigkeit des Menschen hervorhebt. Jeder kann sein Herz läutern und dabei die Wesensessenz seines ganzen Daseins erkennen und sich mit dem universalen, göttlichen Urgrund verbunden finden.
Aus der Stille heraus lebend und handelnd
Es waren immer jene Menschen, die in sich eine Stille entwickelten und dabei einen weitreichenden Einfluss hatten, auf die Welt in der sie lebten. Nicht die Aktivisten, sondern die Quietisten, jene in vollkommener Stille Meditierenden, übten den größten Einfluss aus auf ihre Zeitgenossen aus – auch, oder vielleicht eben gerade deshalb, da es garnicht ihre Absicht war.
Sicher wohl ist etwas an der Aussage dran, dass jemand, der darauf aus ist, sich selbst zu verändern, mehr bei anderen Menschen bewirkt, als jener der versucht um jeden Preis auf Andere Einfluss auszuüben oder sie zu verändern. Ein im 19. Jahrhundert lebender, russischer Mönch, brachte es mit dieser Aussage auf den Punkt:
Erlange einen stillen Geist, und tausende um dich werden errettet.
– St. Serafim von Sarov