Das Wort Schicksal ist heutzutage eher ein sprachliches Symbol, als ein eindeutiger Begriff. Es assoziiert unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen Kontexten und wird auf diese Weise allermeist sogar seiner eigentlichen Bedeutung beraubt.
Schicksal – im ursprünglichen Verständnis – ist das „geschickte Sal“ und bezieht sich auf Salus, die Göttin, die in der römischen Mythologie das Wohlergehens, die Gesundheit und das Heil in einem umfassenden – auch geistig-seelischem – Sinne symbolisiert.
Abseits dieses Verständnisses versucht der heutige Mensch – hier insbesondere der Mensch der säkular-geprägten westlichen Zivilisation gemeint – das Ideal einer autonomen Persönlichkeit zu verwirklichen; d.h., selbstbestimmt und unabhängig zu leben. Für ihn ist die Vorstellung eines ihm übergeordneten Schicksals antiquiert und hat sogar eine ausgeprägt negative Bedeutung. Er assoziiert damit den Verlust eigener persönlicher Kontrolle, mit dem Gefühl von Machtlosigkeit und Impotenz. Oder er hält ein übergeordnetes Schicksal schlicht für Aberglauben.
Außerdem tun sich die meisten Menschen, die ein ausschließlich materielles Weltbild haben, überhaupt schwer damit, Hintergründiges wahrzunehmen. Sie leiten die für sie erkennbaren Lebensmuster vorrangig aus ihrer Sinneserfahrung ab und erklären diese für sich hauptsächlich rational. Das heißt, Lebensverhältnisse, die nicht von vornherein gleich offen-sichtlich sind, können somit vielfach nicht erlebt, gefühlt und damit auch nicht erforscht werden, obgleich diese mitunter sogar – im einem geistig-seelischen Sinne – von existentieller Natur sind.
Die Annahme aber, dass es ein mögliches Schicksal gibt, bezieht sich ja gerade auf die Vorstellung, dass uns – bezogen auf unser Leben generell oder auf eine bestimmte Situation – irgendetwas oder irgendjemand in absichtsvoller Weise geschickt wird, bei dem die Quelle, aus der das Geschickte, der oder die Geschickte kommt, eben nicht oder nicht sofort offen-sichtlich ist.
Wir alle kennen Erlebnisse, bei denen sich zumindest ein solches Gefühl von scheinbarer Absichtlichkeit in uns einstellt, manchmal sogar aufzudrängen scheint, ohne sie erklären zu können. Menschen, die nicht an Schicksal glauben, sprechen dann – mechanistisch ein gespurt – von Zufall.
Natürlich sind solche rationalen Zweifel zunächst nur gesund – vorausgesetzt sie sind nicht mechanistisch ein gespurt. Denn bei allzu naiver Schicksalsgläubigkeit besteht die Gefahr, einem krankhaften Beziehungswahn aufsitzen oder ihm sogar psychotisch zu verfallen.
Andererseits – wenn wir unserer Aufmerksamkeit keinerlei Chance lassen, das Wirken eines möglichen Schicksals wahrzunehmen und zu erforschen – entgeht uns immer wieder mal das punktuelle Aufblitzen einer tieferen Wahrheit und Wirklichkeit, um die wir uns dann selbstgefällig selbst betrügen. In solchen Fällen sind wir uns nicht wirklich darüber im Klaren, dass das Wort Zufall, so wie es im heutigen Sprachgebrauch allgemein verstanden wird, nur der historisch verfremdeten Variante seiner eigenen tieferen Bedeutung entspricht. Tatsächlich ist das Wort über die Zeiten – mit dem gewandelten Kulturverständnis – doppeldeutig geworden, und seine ursprüngliche Bedeutung ist dabei verblasst, allermeist sogar vergessen.
So gilt es – bezogen auf alle Lebensverhältnisse – den blinden Zufall, der in seinem Wesen absichtslos ist, vom absichtsvollen Zu-Fall – bei dem uns etwas Ge-Schicktes zu-fällt – zu unterscheiden; denn wir ahnen ja nicht, in welchem Ausmaß diese verlorene Bedeutung in unserem ganz alltäglichen Lebensvollzug noch immer gültig ist.
Mit der Sprache „ist das so eine Sache“ läuft uns ein „Zufall – Zu-Fall“ über den Weg – jetzt mal ganz egal in welcher unserer beiden Kategorien wir ihn verstehen mögen; absichtslos oder absichtsvoll – dann entfährt uns häufig das Wort „merkwürdig“. Dieses Wort im Zusammenhang mit einem erlebten Zufall drückt unser spontanes – also ungefiltertes – Erstaunen aus, wenn uns von außen etwas unvermittelt begegnet, das uns zu dieser Zeit – im symbolisch übertragenen Sinne – innerseelisch gerade intensiv beschäftigt. C. G. Jung bezeichnete solche symbolisch miteinander korrelierenden Zusammenhänge als Synchronizität oder Koinzidenz.
Wir sprechen also dann von einem „merkwürdigen Zufall“, wenn wir eine gemachte Erfahrung für so „würdig“ empfinden, dass wir sie uns anschließend „merken“. Dann ist sie im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich „merkwürdig.“. Und so geben wir manchmal einem solchen rational ungefilterten verbalen Seelen-Ausdruck von vornherein unbewusst eine tiefere Bedeutung, die wir aber dann bewusst leider nicht mehr weiter hinterfragen
So ist es meine feste Überzeugung, dass es in der Vergangenheit eine Zeit gab, in der der absichtsvolle Zu-Fall das eigentliche Original der Wortschöpfung Zufall war – in einer Zeit, in der der „funkelnde Zauber allen Daseins“ noch als Wunder galt und noch nicht von der überbordenden materiellen Sachlichkeit bzw. Nüchternheit menschlicher Rationalität verdrängt war.
Wir wundern uns vielleicht manchmal noch; verstehen aber nicht mehr wirklich die trans-personalen Wunder, die in solchen Momenten potentiell immer wieder ungeahnt im Hintergrund des Daseins weben können.
Kann es sein, das solche hintergründigen Wirkmechanismen uns deshalb im Allgemeinen mittlerweile fremd sind, weil wir uns – bewusst oder unbewusst – in „Gott-ähnlicher“ Weise, für die „Macher aller Dinge“ halten? Und dass wir diese Haltung mit einem reduktionistischen Naturgesetz-Verständnis verkoppeln – bei dem wir nur deshalb von etwas überzeugt sind, wenn wir „den Apfel vom Baum fallen sehen“?
Kann es sogar sein, dass das, was wir in der Regel unter Naturgesetz verstehen, nur die eine Spielart eines viel umfassenderen Schicksalsgesetzes ist?
Kann es weiterhin sein, dass wir in kleingeistiger Manier – individuell, und besonders gefährlich auch kollektiv – der Hybris verfallen?
In welchem Verhältnis steht das heutige allgemeine Naturgesetz-Verständnis zum Schicksals-Begriff (den wir natürlich auch noch definieren müssen)?
Wie steht es zum Beispiel mit der biologischen Vererbungslehre?
Das wir zum Beispiel die Gene unserer Eltern haben, die uns prägen und unser Leben in existentieller Weise mitbestimmen – inklusive vererbter Krankheiten.
Die Diagnose des Psychiaters ´unheilbare Schizophrenie`, die erblich bedingt ist, wird heute wohl kaum Jemand als Schicksal bezeichnen.
Warum eigentlich nicht?
– Liz Green
Ebenso das Hineingeboren-werden in eine bestimmte Familie; in ein bestimmtes Milieu – ist das blinder Zufall oder schicksalhafte Bestimmung, die das ganze folgende Leben in einem existentiell bedeutsamen Grade mitbestimmt?
Wie immer man das interpretiert, fest steht:
Wir sind nicht die selbstbestimmten Wesen, wie wir sie in unserer modernen Weltanschauung gerne wären.
Auch die modernen akademischen Psychotherapieformen – mit denen man an sich arbeiten kann, um sich zu klären und um ein selbstverantwortliches und unabhängigeres Individuum zu werden – kommen ohne die Vorstellung eines Schicksals nicht aus.
Selbst Sigmund Freud, der sich dem materiellen Weltbild verpflichtet fühlte, prägte den Satz: „Wir sind nicht Herr im eigenen Hause“.
Dieser Satz assoziiert existentielle Abhängigkeiten, denen wir schicksalhaft ausgeliefert sind. Sein psychologisches Konzept des Menschen spricht vom „Über-Ich, vom Ich und vom Es“. Dabei sieht er die Stärkung der Ich-Kraft von zentraler Bedeutung für die Entwicklung einer reiferen und vermehrt unabhängigen Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen Über-Ich und Es. Dennoch ist es ein langer und wohl nie abzuschließender Weg, sich den gesellschaftlichen Anforderungen des Milieus – die durch das Über-Ich in unser Leben hineinragen – zu emanzipieren. Und das Es ist eine noch viel weniger fassbare Größe, die allein mit Gutdünken schwer bewusst zu handhaben ist. Es sind unsere biologisch angeborenen individuellen Triebe, Antriebe und Leidenschaften – ein „genetisches Material“, wie es so schön heißt, das nicht allein physisch wirksam ist, sondern auch unseren bewussten und vor allem unseren unbewussten Intentionen entspricht.
Einen Brückenschlag hin zu einem spirituellen Weltbild finden wir erst in der Tiefen-Psychologie; insbesondere bei der von Jung.
Liz Green, eine Jung´sche Psychoanalytikerin und Astrologin, schreibt Folgendes:
Das mythische undifferenzierte Bewusstsein gehört nicht nur der Geschichte an. Es gehört ebenso zu Psyche des modernen Menschen und bildet eine Schicht, die, obwohl sie durch das wachsende Bewusstsein und die Hyperrationalität der letzten zwei Jahrhunderte überlagert ist, ihre zwei- oder gar zehntausend Jahre alte Kraft nicht eingebüßt hat.
Mythen sind die poetischen Visionen eines geordneten Universums. Das Bild von unveränderlicher Moral und physischen Gesetzen lebt im Unbewussten fort – ebenso die Erinnyen, die „Häscher der Gerechtigkeit“. Eine Kraft, die die Übertretung des „Gesetzes natürlicher Entwicklung“ ausgleicht und rächt.
Diese moralische Ordnung unterscheidet sich auch sehr vom jüdisch-christlichen Begriff des „Guten und Bösen“, da sie sich nicht mit den geringfügigen Vergehen des Menschen seinem Mitmenschen gegenüber befasst.
Für das griechische Denken – vielleicht auch für die tiefe, vergessene Schicht in uns selbst – war die schlimmste Sünde, die der Mensch begehen kann, die Hybris; das heißt, Überheblichkeit, heroisches Streben bzw. zügelloser persönlicher Ehrgeiz, Mangel an Bescheidenheit gegenüber den Göttern). Sünde heißt hier in diesem Zusammenhang: Absonderung von der Einheit, nicht in Einklang sein mit den Naturgesetzen.
Danach hatte jedes Ding und jeder Mensch seinen vorgeschriebenen Platz und seine vorgeschriebene Funktion. Beides ist nicht abhängig von Zeus Befehl, denn auch er untersteht den Gesetzen. Wo aber Stärke ist, besteht die Neigung, die rechten Grenzen zu überschreiten. Daraus entsteht Kampf.
Ein sozusagen unpersönliches, über-olympisches Gesetz bestraft die Hybris und stellt die ewige Ordnung wieder her.
Die Weltbilder des Altertums sind nicht überholt – sie haben sich nur erweitert
Wenn der amerikanische Philosoph und Bewusstseinsforscher Ken Wilber von Evolutionsmechanismen spricht – hier in unserem Kontext die individuell und kollektiv-menschlichen Entwicklungsstadien gemeint – so führt er uns, in meinen Worten zusammengefasst, folgendes deutlich vor Augen:
Wenn wir uns bewusstseinsmäßig über ein gehabtes Stadium hinaus entwickelt haben, dann dürfen wir die darunterliegenden Schichten nicht abschneiden, sondern wir müssen diese in das neue Entwicklungsstadium integrieren. Sonst schneiden wir uns von unseren Wurzeln ab und wir verdorren.
Ohne die Vergangenheit unseres Menschseins – aus der wir noch immer Wichtiges schöpfen können – gibt es keine sich organisch entwickelnde Zukunft.
Transzendieren und Integrieren.
Das ist laut Wilber die Formel für ein organisches Wachstum menschlichen Bewusstseins.
Deshalb liegt dem gegenwärtigen Zeitgeist, so Wilber, folgendes Dilemma zugrunde: Einerseits dominiert im gesamtgesellschaftlichen Gefüge des Erdenrunds – wenn es um Spiritualität geht – heute leider immer noch eine „prä-rationale Spiritualität“ (auch in der zivilisierten westlichen Welt) und andererseits können wir als eine Art von Gegenpart im heutigen Mainstream eine „geist-lose Rationalität“ ausmachen.
Statt diesem ´Dilemma der doppelten Einseitigkeit und damit Gegensätzlichkeit`, postuliert Wilber eine „trans-rationale Spiritualität“ und meint damit schon die nächste Stufe im menschlichen Evolutionsprozess – nämlich eine Spiritualität, die die gegenwärtig einseitig-angemaßte Rationalität transzendiert, sie aber gleichzeitig integriert.
Das heißt in meinen Worten, dass wir eine integrative Sichtweise von authentischer Spiritualität einerseits und einer klaren und gemäßigten Rationalität andererseits brauchen (gemäßigt kommt von Maß, von „nicht anmaßen“), um in der Lage zu sein, den „geistigen Weizen des Altertums von seiner antiquierten Spreu zu trennen“.