Das altgriechische Wort Gnosis bezeichnet jene Erkenntnis des Menchen, durch die er mittels Intuition Einblick in das Wesen der Transzendenz gewinnen kann. Obwohl diese Gnosis auf religiösen Erfahrungen beruht, ist der Begriff nicht gleichbedeutend mit dem Wort „Religion“. Denn weniger geht es um Theologie oder Philosophie, als dass ein Menschen durch besondere Mythen zu spiritueller Erkenntnis geführt werden soll.
Mit „Mythen“ sind allerdings keine Geschichten gemeint die nicht der Wahrheit entsprechen. Vielmehr handelt es sich bei einem gnostischen Mythos um etwas Wahres, dass sich allerdings auf einer anderen, nicht-philosophischen Ebene, jenseits allen theologischen Dogmas ereignete.
Alle religiösen Traditionen in Ost und West gehen aus von einer eigentlich unvollkommenen Welt. Die Traditionen unterscheiden sich lediglich in der Art, diese Unvollkommenheit zu erklären. Gnostiker zeichnen davon aber ein noch anderes Bild. Für sie nämlich haben die Makel in der Welt ihren Ursprung eben in genau der Art, wie die Welt erschaffen wurde: mit Makeln. Nicht also war sie ursprünglich unbefleckt und rein, sondern erhielt mit ihrer Erschaffung gleichsam lichte und finstere Anteile.
Mit den Buddhisten haben die Gnostiker gemein, dass das sie irdisches Leben mit Leiden verbinden. Um die irdischen Leiber zu nähren, müssen all ihre Formen einander verzehren. Pflanzen saugen aus dem Erdboden ihre Närhstoffe, der Mensch und das Tier „töten“ Pflanzen, andere Menschen und Tiere essen andere Tiere. So kommt es, dass die Wesen Leid und Tod erfahren und das höheres Leben Angst davor verspürt. Hinzu kommen Naturkatastrophen, die das Leben der Menschen auf der Erde mit Leid überschüttern.
Der Mensch ist sich dem Allem natürlich bewusst. Sicher aber sieht er sich manchmal darin als einen Fremden, als jemanden der in einer Welt voller Absurditäten lebt.
In vielen Religionen wird der Mensch für das viele Unheil auf der Welt verantwortlich gemacht. Wegen der Sünde des Menschen und seiner Vertreibung aus dem Paradies, so die judeo-christliche wie auch muslimische Auffassung, wurde die Welt zu dem was sie ist.
Doch der Gnostizismus sieht das anders. Hier ist nicht der Mensch für diese „Unvollständigkeit“ und Makel der Welt verantwortlich, sondern ihr Erschaffer – der aber ganz und gar nicht gleichzusetzen ist mit dem, was in der Regel mit dem Namen „Gott“ bezeichnet wird. Vielmehr ist in der Gnosis die Rede von einem „Erschaffer“, einem Baumeister dieser Welt, der aus dem Bereich des Göttlichen hervorging. Auch glauben die Gnostiker nicht daran, dass alles Leid auf der Welt alleine aus den Resultaten der Handlungen lebender Menschen stammt. Sie lassen die Frage nach einem „Warum“ aber nicht offen, sondern geben Antworten auf die Frage, wie sich diese Imperfektion der Welt erklären lässt.
Menschen die sich selbst als Atheisten bezeichnen argumentieren oft so, dass sie einen „guten Gott“ in Frage stellen, da von ihm ja so viel Böses ausgeht. Was aber wäre, wenn beides, Gutes und Böses, Lichtes und Finsteres schon immer gemeinsam in dieser erschaffenen Welt existierten und auch sonst nichts existieren könnte, ohne diese Zweigliedrigkeit (Dichotomie)?
Die Gnosis spricht über unsere Welt als ein Produkt des Zusammenwirkens zweier Mächte:
- einer ursprünglichen, lichtvollen und guten Gottheit, deren Werk durch
- einen falschen und finsteren Schöpfergott korrumpiert wurde.
Es ist also ein subtileres Bild von dem was in den meisten Religionen als Gott bezeichnet wird. Das bedeutet aber nicht dass die Gnosis andere Glaubensrichtungen ablehnt oder in Frage stellt. Das Gegenteil ist der Fall, denn die gnostische Bewegung hatte stets versucht die Erkenntnisse aus den mono-, poly- und pantheistischen Traditionen, sogar miteinander in Einklang zu bringen.
Aus Sicht der Gnosis ist jenseits des geschaffenen Universums ein wahrer, allumfassender und transzendenter Gott. Er erschuf nichts und wurde auch nicht erschaffen, doch aus ihm emanierte eine universale Substanz, aus der aber alle unsichtbaren und sichtbaren Welten entstanden. Darum könnte man sagen, dass alles Gott ist, denn alles besteht aus dieser von Gott ausgehenden universalen, kosmischen Substanz.
Da aus dieser Substanz aber auch alle korrumpierten, makelhaften Dinge in der Welt entstanden sind, wäre es nur allzu sinnvoll, diese auch als Teil dieses jenseitigen Gottes, seiner emanierten Essenz anzuerkennen und auch wertzuschätzen als zwei Aspekte der selben Einheit.
Sophia und der Demiurg
Zentrale Stellung in der Gnosis hat der Name Sophia – das griechische Wort für die Weisheit. Als personifizierte Weisheit emmanierte Sophia auf ihrer Reisen durch die Ewigkeit aus sich ein Bewusstsein. Doch es war von Makeln behaftet. Daraus aber, so die Gnosis, entstand der Schöpfer des materiellen und psychischen Kosmos. Es ist das, was er in seinem eigenen Abbild erschuf. Dieses Wesen wusste nichts von seiner Mutter Sophia, kannte seinen Urpsrung nicht. Hingegen hielt es sich für den letztendlichen und absoluten Gott. Weil er sich aber der bereits existierenden göttlichen Substanz in seiner Unwissenheit bedient hatte, um daraus die Welt zu erschaffen, bestand er nur aus der Hälfte der göttlichen Wahrheit. Er ist der Baumeister dieser Welt, der „Demiurg“. Was er erschuf ist aber nur zu einer Hälfte authentisch und dem ursprünglichen, transzendenten Gott ähnlich, doch wird von ihm wegen seiner Unwissenheit nicht als solcher erkannt.
Als höchste Kreation des Demiurgen gilt der Menschen, ein Wesen voller Widersprüche und damit des Demiurgen Repräsentant der Dualität in der Welt, die sich aus lichtvoller Wahrheit und finsterer Unwahrheit zusammensetzt. Er besteht aus einem sterblichem Körper mit einem ebenso vergänglichen Seelenanteil, trägt aber auch eine geistige Komponente in sich, die er als den göttlichen Lichtfunken in sich erkennen kann – das was sein wahres Selbst ist. Dieser Funke ist Teil der oben erwähnten urgöttlichen Substanz reinen Lichts. Der größte Teil der Menschheit hat davon aber niemals erfahren und wird auch niemals davon erfahren – da, so die Gnostiker, jener „unbewusste Gott“, der Demiurg sie daran hindert.
Der höchste Bereich des Menschen ist also der Geist, der aus dem Seelenfunken, der göttlichen Monade hervorstrahlt. Darum wird die gnostische Weltsicht auf ewig in den Geistern der Menschen erhalten bleiben. Selbst wenn immer wieder religiöse Fanatiker versuchen sie auszurotten, wird sich das wahre Licht in ihrem Wesen behaupten können. Schließlich ist ihr Geist doch Teil dieser göttlichen, wahren und lichtvollen Ursubstanz.
Die Klarheit und Offenheit der gnostischen Lehre kann, trotz der misslichen Lage in der sich die Menschheit befindet, Lösungen anbieten die zu einem besseren Verständnis des Selbst und des Grundes der Inkarnation beitragen.