Mystik zu erfahren ist ein Wunsch, der in jedes Menschen Herz eingetragen ist, ganz gleich, welcher Religion er auch angehört. Eher ginge es jemandem, der solch erhabenen Wunsch hegt, darum, zu dieser Dimension jenseits der materiellen Welt vorzudringen, um da zur Erkenntnis der Essenz aller Spiritualität zu gelangen.
Mit solch Bestreben sind manche gar gesegnet. Andere leider kaum. Einige Menschen haben die Möglichkeit, diesen Drang zu Mystischem Erleben zu entwickeln, um die darin gemachten Erfahrungen darauf in ihr tägliches Leben zu übertragen. Andere tun dies aber gar nicht. Und doch: Diese Tendenz nach Mystischem zu suchen trägt eigentlich jeder in sich, doch scheint bei den meisten Menschen verschüttet zu sein. Doch sie kann erweckt und gelüftet werden. Die Themen und Erfahrungen des Sufismus bilden natürliche Antworten auf dieses sehr alte menschliche Bedürfnis nach mystischer Erfahrung.
Stellt sich die Frage: Was genau ist Sufismus eigentlich? Da ist es ganz wichtig zuerst einmal festzustellen: Die Botschaft der Sufis richtet sich an alle Menschen, nicht nur an die Anhänger eines bestimmten Sufi-Ordens, ja nicht einmal nur an die Mitglieder einer bestimmten Religion. Es ist eben so, dass der Mensch nicht nur aus einem physischen Körper besteht, sondern auch Aspekte besitzt, die gemeinhin »sein Selbst« bezeichnen. Wer eine mystische Erfahrung machte, dessen Selbst trat da vielleicht zum ersten Mal mit etwas höher Geistigem in Resonanz. Was der Erfahrende dabei erlebte, glich da vielleicht einem numinosen feinstofflichen Fließen, das ihn da durchdrang. Auf einmal kamen da ganz starke Potentiale aus ihm zum Vorschein, derer er sich bis dato noch nicht bewusst gewesen war.
Die Folge solch erhabenen Erlebens geht meist einher mit einem gewissen Maß an Bewusstsein und Einsicht, wo jemand zu spüren begann, dass sein »Selbst« ein anders geartetes »Ich« widerspiegelt – ein »Ich seines höchsten Seins«. Er wird sich da bewusst, dass Gott in und durch die Schöpfung handelt, zu der er als lebender Mensch ja zählt.
In Kontakt mit Gott treten zu wollen
Viele Menschen erreichen diese Ebene des Bewusstseins an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben. Eine besondere Begegnung oder ein Ereignis führte sie zu einer Erkenntnis, über die sie dann einen Schlüssel erhielten, mit dem sie zum ersten Mal die Tore einer für sie neuen Realität eröffnen – etwas das größer ist als sie selbst. Für die meisten ist diese erste Ebene des Erwachens ausreichend. Andere jedoch wünschen sich mehr: Sie wollen mit Gott in Kontakt treten, dem Göttlichen entgegensehen, um letztendlich dabei die ultimative Wahrheit des Seins zu erfahren. Nur ein Teil zu sein, reicht ihnen nicht. Sie sehnen sich danach, sich im Ganzen, im Ewigen, im Einen aufzulösen. Nicht aber etwa um ihrem Leben zu entfliehen, als vielmehr dabei einen Glauben zu entwickeln, der lebendig wird wie Wasser, das unaufhörlich aus einer göttlichen Quelle entspringend ihm entgegenfließt. So jemand sehnt sich danach, auf persönliche Weise zu erfahren, was der 16. Vers der 50. Sure mit dem Titel »Qaf« beschreibt:
Wir (Gott) haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was seine Seele einflüstert, und Wir (Gott) sind ihm doch näher als seine Halsschlagader.
Was aber soll und kann solch heilige Sehnsucht erfüllen?
Gott ist der Name für das erhabenste Sein: Allah. Im Vergleich dazu ist der Mensch ganz grobstofflich, dessen Sinne zwar feine materielle Dinge hören, fühlen, berühren, sehen, schmecken oder riechen können. Das Höchste Wesen aber entzieht sich solcher Wahrnehmung, was Menschen seit Anbeginn der Zeit wohl dazu führte, dies eigentliche Dilemma für sich lösen zu wollen. Wem dies gelang fand dabei zur Erkenntnis, dass er es an seine Lieben weitergeben könne.
Lehren des Sufismus erfahren
Hierzu lehren die Meister des Sufismus seit sehr langer Zeit ihre Schüler, das der Weg zur Erfahrung der göttlichen Gegenwart im Inneren eines Menschen beginnt. Es geht dabei erst einmal darum, seinem wahren Selbst auf die Spur zu kommen und daraufhin sich auf eine besondere Weise zu verwirklichen – denn es heißt:
Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.
Gott der Herr ist gegenwärtig. Doch der Einzelne kann ihn als Allmächtigen nicht empfinden, weil sein Herz ein Schleier der Unwissenheit verhüllt. Es ist die allgemein verbreitete Egozentrik, die seins, wie auch die Herzen so vieler anderer Menschen verdunkelt. Erst wenn sich die Haltung zum Selbst und zu Gott wandelt und damit das Herz quasi »poliert« und dabei die eigene Individualität geläutert wurde, können die genannten Schleier, einer nach dem anderen, gelüftet werden und so das Licht des Selbst zu strahlen beginnen, worin ein wahrer Sufi dann tatsächlich Gott zu schauen und auch andere Menschen auf diesen Weg zu führen vermag.
Da wich der Blick nicht ab, noch überschritt er das Maß. Wahrlich, er (Mohammed) sah einige der größten Wunder seines Herrn!
– Sure 53:17f
Ein Herz der Hingabe
Lange Zeit entwickelten die Sufi-Meister der verschiedenen Tariqas (Sufi-Schulen oder -Bruderschaften) ihre dafür notwendigen Vorgehensweisen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Mensch eben nicht allein einen Verstand, sondern auch noch andere Bewusstseinszentren besitzt. An erster Stelle dabei steht das Herz: Es bildet ein inneres Zentrum des Bewusstseins über das ebenso Wissen erlangt werden kann. Viele Jahre übten die Sufi-Meister von einst, Techniken zu entwickeln die eine Aktivierung des spirituellen Herzens (also quasi seine Wiedererweckung) ermöglichen, um ihre Schüler zu den Pforten tiefer Intuition und Erkenntnis zu führen.
Wenn zuvor die Rede war von einer »Politur des Herzens«, war das eine Metapher für das geistige Zentrum in jedem von uns, dass durch diese Arbeit zu einem Spiegel wird, der das Licht der Wahrheit einzufangen vermag und dabei im eigenen Bewusstsein zu reflektieren. Weniger ist hier aber das physische Herz (Muskel in der Brustmitte) gemeint, als ein inneres, spirituelles Zentrum, dass jenseits der materiellen Phänomene uns als ein größeres Sein zur Verfügung steht, dass sogar Teil eines alles umfassenden universalen Seins ist und darin enthalten Göttlichkeit widerspiegelt – einschließlich des eigenen inneren, göttlichen Selbst.
Wer solcherart oder ähnliche spirituelle Erfahrungen bereits machte, dem gelingt auch in sich ein göttliches Potenzials zu entwickeln, dass in ihm schließlich einen unerschütterlichen Glauben und Gewissheit wachsen lässt, nämlich davon was Wahrheit, ja was letztendlich Göttlichkeit meint. Er unterwirft sich damit ganz der Allmacht Gottes, wie ein Regentropfen der in einen Ozean fallend, mit diesem eins wird und sich ihm damit quasi unterwirft.
Wer zu solch Erkenntnis und spiritueller Erfahrung geführt wurde und dabei für sich entdeckte, in dem steigt ein Bedürfnis danach mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu kommen, indem er alle Handlungen allein um Gottes willen ausführt. Eine wahrlich erhabene Haltung, die sich da in jemandem festigt, der dabei eine Selbstlosigkeit entwickelt, wovon er ablässt nur tun zu wollen, um damit zu einem Sein zu finden, dass ihn zuerst empfänglich, dann aber durchlässig macht für ein göttliches Wirken. So jemand erkennt die Gegenwart des Göttlichen in jedem Ereignis und jedem Umstand und wird dabei zu einem aufrichtigen Diener des Allmächtigen. In der Tat basiert das wahre Wesen des Sufismus auf dieserart innerer und äußerer Aufrichtigkeit.
Beschreiten des Sufi-Pfades
Doch Sufismus konzentriert sich nicht allein auf die Läuterung des Einzelnen. Während er nach Selbstlosigkeit strebt, widmet der spirituell Reisende seine gemachten Erkenntnisse auch der Verbesserung der sozialen und kulturellen Bedingungen der Gemeinschaft und damit doch auch der Menschheit als Ganzes. Diese Verpflichtung zum Dienen macht einen wahren Sufi zu einer dynamischen, transformativen Kraft auf allen Ebenen: vom persönlichen Leben bis zum Leben der Menschen in der Gemeinschaft, die ja jeder von uns in der einen oder anderen Form ja zum Überleben braucht. Wahrer Sufismus aber ist dabei nicht darauf ausgerichtet seinen Vertretern, die dabei als Lehrer wirken, ein gutes Auskommen zu verschaffen. Auch hält er seine Schüler nicht absichtlich in einem Zustand der Mystifizierung. Selbst wenn es heute viele verwässerte Ableitungen davon gibt, was Menschen für »Sufismus« halten, bleibt die Essenz dieser Tradition, dank der Gnade des Allmächtigen, dennoch bestehen – auch in unserem modernen, technologischen Zeitalter. Sufismus bietet eben spirituelle Prinzipien, die als Grundlage dienen für die Art und Weise, wie wir zu handeln beabsichtigen, damit sie auch anderen Menschen zu Gute kommen. Ein wahrer Sufi versucht durch das Beschreiten des Pfades seiner Tariqa (spiritueller Weg) die Ereignisse in seinem äußeren Leben mit seinen inneren spirituellen Praktiken ins Gleichgewicht zu bringen, was mit der heute in allen Lebensbereichen zunehmenden Komplexität immer wichtiger werden dürfte.
Während die vielen anderen Formen von Ausbildungen sich nach Verstandesdingen oder den Erscheinungen der materiellen Welt ausrichten, versucht der Sufi sein Herzbewusstsein zu vervollkommnen und dabei die Tiefen dieses Bewusstseins auszuloten. So erlangt der Aspirant tiefe Einsichten, die seinem Leben wichtige Anhaltspunkte zur Orientierung liefern und als Mittel dienen, um sich selbst und Gott besser zu verstehen. Nur ein erwachtes Herz kann Gottesbewusstsein erlangen. Dem menschlichen Verstand bleibt dies verwehrt. Diejenigen aber, die dem Sufi-Pfad folgen, entdecken die Geheimnisse die durch die Erweckung des Herzens gelüftet, zumindest aber allmählich enthüllt werden. Sie erkennen und leben ein Wissen, das dem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) offenbart wurde, wo er einmal sagte:
Die Gefäße deines Herrn sind die Herzen seiner rechtschaffenen Diener, und die, die Ihm am liebsten sind, sind die weichesten und zartesten.
– Gemäß Abu l-Qasim At-Tabarani (Hadithen-Gelehrter)