Die heilig-göttlichen Offenbarungen des Hinduismus, die Puranas, erzählen eine sehr eindrucksvolle Geschichte über das Wesen unseres Egos und unseres wahren Selbst. Alles was jetzt ist, war schon einmal da. Es gibt nichts Neues unter dem Himmel. Auch unser eigenes Leben, so will es der folgende Mythos, erlebte vor sehr, sehr langer Zeit vielleicht bereits ein anderer Mensch.
Dazu erzählen die indischen Brahmavaivarta Puranas eine interessante Geschichte.
Einst wand sich ein furchtbares Monster durch die Ozeane der Erde: der Schlangendämon Vritra. Wegen seinem Treiben erwärmte sich das Klima auf der Erde ganz drastisch und es kam zu einer großen Dürre. Schwer krankte die Erde an dieser Trockenheit.
Es dauerte einige Zeit, bis König Indra entdeckte, dass er in Besitz magischer Blitze war, die versteckt in einer Kiste lagen. Als Götterkönig und Regengott, war es seine Pflicht, die krankende Erde von der Dürre zu heilen. Er musste einfach nur die Blitze auf das Monster Vritra werfen, es elektrisieren und damit unschädlich machen. Das tat er – und siehe da: die Wasser begannen wieder zu fließen, erquickten die Erde und die Lebewesen labten sich am Guten, das mit dem Wasser kam. Da sagte Indra zu sich: Was bin ich doch für ein großartiger Mann!
Der indische Gott Brahma (links) – Erschaffer der Welt.
Der Palast des Indra
Nun bestieg Indra den Weltenberg, um darauf einen ihn angemessenen Palast zu errichten. Er ernannte den göttlichen Zimmermann Vishvakarma zu seinem Baumeister. Schon nach kurzer Zeit war der Palastbau weit fortgeschritten.
Doch jedesmal wenn Indra kam, um sich über die Fortschritte des Palastbaus zu erkundigen, kam ihm eine neue Idee, wie man den Palast weiter ausstaffieren und erweitern könnte. Schließlich sprach der Baumeister zu Indra:
Hört, wir beide sind unsterblich und seine Wünsche sind unendlich, drum bin ich damit für die Ewigkeit von ihm gefangen.
Also beschloss der Zimmermann eine Beschwerde zu richten, an den Schöpfergott Brahma.
Der Lotus des Vishnu
Brahma sitzt auf einem Lotus – dem Symbol göttlicher Energie und Huld. Dieser Lotus wächst aus dem Nabel des schlafenden Gottes Vishnu. Der erträumt sich die gesamte, gegenwärtige Schöpfung.
Als nun Vishvakarma an das Ufer des großen Lotusteichs kam, richtete er seine Beschwerde an den Gott Brahma.
Nachdem sich Brahma die Klagen des Vishvakarma angehört hatte, sprach er zu ihm: »Geh heim, ich will es für dich richten.« Nun stieg Brahma aus seinem Lotus und kniete nieder vor dem schlafenden Vishnu. Als Brahma zu ihm sprach, zeigte Vishnu ihm eine besondere Geste und sprach: »Höre, flieg los, etwas wird sich ereignen.«
Ein blauer Schönling
Am folgenden Morgen erschien am großen Tor des Palastes des Indra ein schöner, blauer Jüngling. Den umgaben eine Gruppe Kinder die sich an seiner Schönheit erfreuten. Der Torwächter war verwundert und eilte zu Indra, ihm von dem schönen, blauen Jungen zu berichten. Als das der Indra vernahm, antwortete er dem Wächter: »Nun, dann bring mir diesen Jungen her.«
Man brachte den blauen Jüngling also zu Indra, der auf seinem Götterthron auf ihn wartete. Indra sprach: »Junger Mann, sei Willkommen. Was verschafft mir die Ehre, dich in meinem Palast zu empfangen?«
»Nun« sprach der Junge mit einer tiefen Stimme, die dem Grollen eines Donners glich, den man vom Horizont heranrollen hört, »es kam mir zu Ohren, dass du einen wunderbaren Palast erbaust, wie es kein Indra jemals vor dir tat.« Und Indra antwortete verwundert, »Indras vor mir? Junger Mann, wovon sprichst Du eigentlich?«
Der junge Mann sprach: »Es gab Indras vor Dir. Ich sah sie kommen und gehen, kommen und gehen. Stell dir nur vor: Vishnu schläft in seinem kosmischen Ozean und aus seinem Nabel wächst der Lotus des Universums. Auf diesem Lotus sitzt Brahma, der Schöpfer. Wenn Brahma seine Augen dem Licht öffnet, entsteht eine neue Welt, über die ein Indra regiert. Wenn Brahma seine Augen wieder schließt, entschwindet diese Welt dem Sein. Ein Leben Brahmas sind 432.000 Jahre. Wenn er stirbt, zieht sich der Lotus zurück. Dann formt sich ein neuer Lotus, woraus ein neuer Brahma ersteigt. Denke an die Galaxien jenseits der Galaxien, in einem unbegrenzten Raum. Jede entfaltet sich als Lotus, in dem ein Brahma sitzt, der seine Augen öffnet und seine Augen wieder schließt.
Vielleicht gäbe es Freiwillige, die die Wassertropfen der Ozeane und die Sandkörner ihrer Strände zählen würden. Niemand aber könnte jene Brahmanen zählen – viel weniger noch jene Indras.«
Als der Junge so zu Indra sprach, krabbelte plötzlich ein gigantischer Ameisenstaat neben ihnen über den Boden. Die kleinen Insekten schienen tatsächlich eine Parade vor den beiden abzuhalten. Der blaue Jüngling konnte sich nicht zurückhalten und begann zu lachen. Indra standen die Haare zu Berge und er sprach zu dem Jungen: »Warum lachst du denn?« worauf dieser antwortete, »Frage nicht, solange du nicht bereit bist Schmerz zu ertragen.«
Indra sprach darauf zu dem Jungen: »Ich frage! Du aber lass Deine Lehre verlauten.« Darauf richtete der Junge seinen Zeigefinder auf die Ameisen und sprach zu Indra: »Alle früheren Indras stiegen über viele Leben hinweg, immer wieder aus niedrigsten Verhältnissen auf, zu höchster Erleuchtung. Dann warfen sie ihren Blitz auf ein Monster und dachten sich ‚Was für ein großartiger Mann ich doch bin.‘ Und danach gehen sie wieder unter.«
Vishnu schläft in Gegenwart seiner Frau Lakshmi auf der Weltschlange Shesha. Aus seinem Bauchnabel wächst ein Lotus, in dem Brahma sitzt und die Welten erschafft.
Der alte, nackte Greis
Als der blaue Jüngling so sprach, tauchte im Palast plötzlich ein schrulliger, alter Yogi auf. Er trug einen Sonnenschirm, verfertigt aus den Blättern des Bananenbaumes. Bis auf einen Lendenschurz war der alte Mann nackt. Auf seiner Brust sammelten sich kreisrund ein paar Haare.
Der Junge grüßte den alten Mann und fragte ihn, was gerade Indra im Begriff war zu fragen: »Alter Mann, wie ist dein werter Name? Woher kommst du? Wo lebt deine Familie? Wo ist dein Heim? Und was hat die eigenartige Haarfrisur auf deiner Brust zu bedeuten?«
»Nun«, sagte der alte Mann »man nennt mich ‚den Behaarten‘. Ich habe kein Haus. Dafür ist das Leben einfach zu kurz. Alles was ich besitze ist dieser Sonnenschirm. Ich habe keine Familie. Alles was ich tue ist zu Füßen Vishnus meditieren und ich denke dabei an die Ewigkeit und daran, wie schnell doch die Zeit vergeht. Weißt Du, immer wenn ein Indra stirbt, verschwindet mit ihm eine ganze Welt. Die Welten rauschen einfach vorüber. Jedesmal wenn ein Indra stirbt, fällt von meiner Brust ein Haar. Die Hälfte aller Haare sind nun ausgefallen. Schon bald werden sie alle ausgefallen sein. Das Leben ist kurz. Wieso also sollte man ein Haus bauen?« Danach verließen den Indra, der blaue Jüngling und der nackte Alte.
Der Junge war eine Erscheinung Vishnus, der beschützende Herrgott. Der alte Yogi war Shiva – Erschaffer und Zerstörer der Welt. Letzterer sollte Indra darin unterweisen, dass er, Indra, nur ein geschichtlicher Gott sei, darin aber irrt zu glauben, er sei alles was man sich vorstellen könne.
Das aber führte dazu, dass Indra nun völlig desillusioniert auf seinem Thron saß. Er fühlte sich regelrecht bloßgestellt. Er grübelte über das Vorgefallene und war tief erschüttert. Sein Leben erschien ihm wie ein Traum. Darum fühlte er kein Verlangen mehr, seinen göttlichen Glanz zu vermehren, was er ja durch den Bau seines riesigen Palastes erzielen wollte. Darum rief er den Zimmermann Vishvakarma zu sich und sprach zu diesem: »Ich möchte den Bau des Palastes hiermit beenden. Du sei entlassen.« Er überhäufte ihn mit Juwelen und kostbaren Geschenken und entließ ihn mit einem prunkvollen Fest. So erfüllte sich die Absicht des Baumeisters. Er war damit entlassen, der Bau des Palastes eingestellt.
Indra jedoch entschloss sich dazu ein Yogi zu werden und zu Füßen des großen Vishnu zu meditieren. Wenn da nicht die schöne Königin Indrani gewesen wäre. Als Indrani von Indras Plan erfuhr, wandte sie sich an den Hohepriester und sprach: »Jetzt ist er übergeschnappt und plant wegzugehen, will ein Yogi zu werden. Nun«, sprach der Priester, »komm mit mir Liebste, damit wir uns setzen und überlegen, wie wir die Lage retten.«
Sie begaben sich an den Thron des Gottesfürsten Indra, setzten sich nieder und der Priester sprach: »Nun, vor vielen Jahren schrieb ich ein Buch für Dich, über die Kunst des Regierens. Du hast die Position des Götterkönigs inne. In Raum und Zeit lebst du, als Manifestierung des geheimnisvollen Brahma. Das ist ein hohes Privileg. Das solltest du zu schätzen wissen, solltest es ehren. Drum gehe mit deinem Leben um als jener, der du tatsächlich bist. Davon abgesehen, werde ich nun gehen und dir ein Buch über die Kunst der Liebe schreiben, damit du und deine Frau verstehen: im wunderbaren Geheimnis der Zwei die Eins werden, darin ist der Schöpfer Brahma gegenwärtig, von da strahlt er aus.«
Götterkönig Indra seine Blitze werfend.
Diese Anweisungen erhalten, verwarf Indra seine fixe Idee ein Yogi zu werden. Stattdessen wurde ihm gewahr, dass er in seinem Leben das Ewige als Symbol für Brahma repräsentierte.
Indra: Symbol des Göttlichen in uns?
Jeder von uns ist, auf die eine oder andere Weise, selbst ein Indra seines eigenen Lebens. Natürlich kann man sich dazu entschließen, sich in die Abgeschiedenheit zu begeben, um dort zu meditieren. Auch kann man am Weltgeschehen teilnehmen, am alltäglichen Leben und im Job den man ausübt, um die Welt zu einem Besseren zu formen. Oder man strebt danach sein Liebesleben zu verschönern und kümmert sich um seinen Lebenspartner oder seine Familie. Doch die Erde, auf der all das stattfindet, ist nur ein winziger Teilabschnitt, in der langen Geschichte des Weltalls.
In seiner periodischen Wandlung, entwickelt es sich zur Vollkommenheit, um sich danach allmählich wieder aufzulösen, bis es schließlich vollkommen zerfallen, wieder aus seiner Existenz verschwindet. Dann aber, wenn es in die kosmische Nacht zurückgekehrt ist, wird ein neues Weltall geboren. Der uranfängliche Vorgang göttlicher Vollendung beginnt damit erneut.
Wir sollten uns stets daran erinnern, dass auch unser Leben einem ähnlichen Wandel von Entstehen und Vergehen unterliegt. Zwar ist unser eigenes Leben natürlich äußerst wertvoll, nur werden die Lebensdramen oft überbewertet, da man sich einfach zu wichtig nimmt. Doch die Verleitung ist groß so eine Haltung einzunehmen. Darauf verweist ja auch der obige Ausspruch Indras: »Was bin ich doch für ein großartiger Mann!«
Doch wie die Geschichte weiter zeigt, ist auf der Bühne des Weltgeschehens, offensichtlich nicht Indra der Hauptdarsteller. Wie er, wollen auch wir uns oft mit egozentrischer Hartnäckigkeit, gegen den Fluss der Zeit stellen. Das es aber das Ewige gibt, was immer währt, davon wollen wir nichts wissen. Viele Menschen täuschen sich, was Ewigkeit in Wirklichkeit bedeutet, denn sie hat nichts zu tun mit „sehr langer Zeit“. Ewigkeit steht außerhalb des Zeitphänomens – besitzt sie doch weder einen Anfang, noch ein Ende.
Wer das in sich wahrnehmen kann, der wird bald die Erkenntnis erlangen, dass all unsere Entzückungen, Erwerbungen, unser Stolz über unsere Errungenschaften, nur Teil unserer Lebenszeit ist, die ja dereinst enden wird. Da dieser Zeitabschnitt unseres relativ kurzen Lebens, aber in einem Jahrtausende währenden Äon stattfindet, verliert das eigene Leben darin schnell an Bedeutung. Erst diese Einsicht, macht den eigenen Bewusstseinsraum frei und hilft uns der Wirklichkeit Gottes zuzuwenden.